August Gottfried Ritter

Complete Organ Sonatas opp. 11, 19, 23, 31

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm, MDG 320 0866-2 (2017)
erschienen in: organ 2018/01 , Seite 56

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Gottfried August Ritter, zunächst Organist in Erfurt, dann ab 1843 Domorganist in Merseburg und schließlich von 1847 bis zu seinem Todesjahr 1885 in Magdeburg, galt zu Lebzeiten als die deutsche Orgelautorität. Er war nicht nur als bes­ter Improvisator seiner Zeit angesehen, sondern betätigte sich auch als Musikforscher und Organologe, gab eine grund­legende Geschichte des Orgelspiels heraus und eine damals verbreitete Orgelschule.
Unter seinen Kompositionen ragen die vier Orgelsonaten heraus: Werke von je 15 bis 20 Minuten Dauer in freien, mehrteiligen Formen, die nach dem Kontrastprinzip dynamisch bewegte mit zurückhaltenden kontemplativen Abschnitten austarieren, wobei Ritter ab der zweiten Sonate wie etwa Robert Schumann deutsche Satzüberschriften wie „Rasch und entschlossen“ oder „Ruhige Bewegung“ bevorzugte. Historische Vorbilder sind in Umrissen zu erkennen: So scheint das Modell von Toccata und Fuge in der Franz Liszt gewidmeten Sonate Nr. 3 in a-Moll durch, der heute bekanntesten von den vieren. Choralartig „weihevolle“ Wendungen fehlen nicht, doch sind sie hier als reine Stilzitate zu deuten, ohne unmittelbar auf das traditionelle Kirchenliedgut zurückzugreifen.
Die Orgel, die Ritter für den Magdeburger Dom bauen ließ, wurde wohl erst nach der Entstehung aller vier Orgelsonaten (zwischen ca. 1845 und ca. 1855) errichtet und verfügte über mechanische Trakturen mit Barkerhebeln. Der Orgelbauer, den Ritter für dieses Projekt auserkoren hatte, war Adolph Reubke aus Hausneindorf im Harz, Vater des Komponisten Julius Reubke (ein Mitglied in Liszts „Weimarer Kreis“). Zwischen 1856 und 1861 plante und baute er das klassisch ausgerichtete viermanualige Instrument mit 88 Registern, dessen Klanglichkeit Ritter wohl sehr liebte.
Obwohl Ritter im Dom – wie an allen anderen Magdeburger Orgeln – kein Schwellwerk zur Verfügung stand, fordert er in seinen Sonaten eine differenzierte Dynamik mit Crescendo- und Decrescendoeffekten. Sie zu realisieren tut sich Ursula Philippi bei ihrer vorliegenden rundweg gelungenen Einspielung folglich leichter als der Komponist. Denn der ehemaligen Kantorin der lutherischen Stadtpfarrkirche in Hermannstadt (Sibiu) stand bei ihrem diskophilen Ritter-Vorhaben die dortige spätromantische Wilhelm-Sauer-Orgel zur Verfügung: ein 1914/15 erbautes viermanualiges elektropneumatisches Instrument mit nahezu hundert klingenden Registern, das die kommunistische Ära Rumäniens überstanden hat und heute (fast) wieder im Originalzustand spielbar ist. Eine Renovierung durch die auf die Restaurierung jener (spät-)romantischen Orgeln spezialisierte Firma Chris­tian Scheffler aus Frankfurt/Oder im Zeitraum 1996/97 galt sowohl der technischen Anlage als auch der originalgetreuen Rekonstruktion einiger Register, welche der seinerzeitigen „unvermeidlichen“ Barockisierungswelle in den 1930er und 40er Jahren zum Opfer gefallen waren.
Für die Darstellung von Ritters romantischer Orgelmusik erweist sich die etwas später entstandene Hermann­städ­ter Sauer-Orgel mit ihren zahlreichen 16- und 8-Fußlabialen in den Manualen, einer Fülle von auf- und durchschlagenden Zungen, Streicherstimmen, gewöhnlichen und überblasenden Flöten als durchaus geeignet. Seine Klangvorstellungen legte Ritter teils in präzisen Manual- und Registerangaben dar, gelegentlich findet man ebenso die zeittypischen verbalen Charakterisierungen wie „Mit einer sanft-schneidenden und einer sanft-vollen Stimme“ etc. Philippis grundsolide und „werktreue“ Umsetzung solcher Vorgaben lässt sich anhand der im Book­let abgedruckten Orgeldisposition und der akribisch mit Taktangaben dokumentierten Regis­trierungen bis ins Detail nachvollziehen: ein perfekter Service für den organophilen Hörer dieser CD, zumal beim Mitlesen der Partituren.

Gerhard Dietel