Christian Erbach (1570–1635)
Complete Organ Music
Manuel Tomadin an diversen historischen Orgeln
“Auf den neun CDs kamen sage und höre mehr als zehn Stunden durchweg großartiger Musik zusammen. Wie seine zahlreichen, größtenteils geistlichen Vokalwerke zeigen Erbachs rund 150 Toccatan, Ricercari, Canzonen dazu etliche Messensätze und Magnificat-Versetten für die Alternatim-Praxis viele Merkmale italienischer, speziell venezianischer Kompositionskunst …” (Markus Zimmermann)
Bewertung: 4 von 5 Pfeifen
Von der Tastenmusik Christian Erbachs des Älteren (1570–1635) bekommen Interessierte meist nur jene winzigen Schnipsel zu hören, die in Anthologien leicht erreichbar sind und hin und wieder auf Porträts historischer Orgeln erscheinen oder selten in Konzerten gespielt werden. Dadurch wird dieser überaus fruchtbare und vielfach rezipierte Komponist zu Unrecht als Kleinmeister wahrgenommen. Ein solcher war er mitnichten, denn er hatte nacheinander fast alle wichtigen Posten des reichen Augsburger Musiklebens um 1600 inne, wurde von den Fuggers gefördert und war in Süddeutschland ein ähnlich einflussreicher „Organistenmacher“ wie Jan Pieterszoon Sweelinck in den Niederlanden
Der italienische Organist und Cembalist Manuel Tomadin hat sich nun der anspruchsvollen, weil gestalterisch heiklen Aufgabe gestellt, Erbachs Werke für Tasteninstrumente umfassend einzuspielen, wofür er wohl die 1971–77 in fünf Bünden von Clear G. Rayner besorgte Ausgabe (Corpus of Early Keyboard Music – CEKM) verwendete. Leider äußert sich der Interpret weder zum Notenmaterial noch zu seiner Motivation und der Konzeption seiner Einspielung. Das englische Booklet verzeichnet zwar die elf historischen bzw. nachgebauten Instrumente – Da Prato-Orgel von San Petronio in Bologna, Antegnati-Orgel von San Nicola’s in Almenno San Salvatore, Facchetti-Orgel von San Michele in Bosco (Bologna), Antegnati-Orgel von Santa Barbara in Mantova, Hermans-Orgel von
S. Ignazio di Loyola in Pistoia, Pradella-Renaissance-Orgel in Dondrio, Ravani-Orgel von Pieve di Santa Maria Assunta in Bientina, Da Cortona-Orgel von Santo Stefano in Pieve di Santo Stefano, Colombi-Orgel im SS Corpo Dom, Apfelregal (Kögler) im Musikinstrumentenmuseum Schloss Kremsegg – , begnügt sich aber sonst mit der fast wörtlichen Übersetzung des Erbach-Artikels aus dem Personenteil der MGG2.
Auf den neun CDs kamen sage und höre mehr als zehn Stunden durchweg großartiger Musik zusammen. Wie seine zahlreichen, größtenteils geistlichen Vokalwerke zeigen Erbachs rund 150 Toccatan, Ricercari, Canzonen dazu etliche Messensätze und Magnificat-Versetten für die Alternatim-Praxis viele Merkmale italienischer, speziell venezianischer Kompositionskunst, immer wieder scheint vor
allem die Mehrchörigkeit auf. In den polyphonen Sätzen werden oft mehrere Soggetti in kunstvoller aleatorischer Weise behandelt. Es entfaltet sich ein abwechslungsreicher und luzider Kosmos fortschrittlichster Claviermusik zu Beginn des Frühbarock.
Zum Glück ist Manuel Tomadin nicht der Versuchung erlegen, die Programme der einzelnen CDs nach (Kirchen-)Tonarten zu ordnen. Vielmehr wechseln vielstimmige Toccaten in satten Plena mit leichtfüßigen Canzonen in duftigen Flötenregistrierungen und komplexen Fugensätzen mit klar zeichnenden Prinzipalstimmen; die Ordinarium- und Magnificat-Zyklen sind gleichsam als Miniaturausgaben dieses breiten Spektrums eingefügt. Seine Spielweise und Verzierungstechnik passt der mit Alter Musik hörbar erfahrene Interpret geschmackvoll an den jeweiligen Satztyp an: Zu Ein- oder Auszügen bestimmte Stücke erklingen im großen Gestus, geringstimmige, filigrane Strukturen erfahren Leichtigkeit und Spielfreude, in Elevationen (Voce umana) und Ricercari kehrt meditative Ruhe ein. Alles wirkt engagiert, dennoch entspannt.
Faszinierend ist ferner die erstaunliche klangliche Vielfalt der vorzüglich gewählten, herrlichen Instrumente mit ihrer überschaubaren Registerzahl, darunter die altehrwürdige Orgel von San Petronio in Bologna mit Pfeifenwerk von 1475. Allein die Unterschiede in den Prinzipalen und deren einzelnen Lagen lohnt das konzentrierte Studium: Vom seidigen Klang bis hin zu fast frühromantischer Fülle sind alle Nuancen vorhanden. Einige Stimmen zeigen reizvolle Vorläufertöne – fast wie jene der unveränderten Orgel von 1737 in der Klosterkirche Maihingen. Geschickt setzt Tomadin die einzelnen Chöre des Ripieno ein, indem er sie bald lückenhaft registriert, bald bündelt. – Auf CD 4 beleben Nachbauten von Apfelregal und Cembalo die Hörfolge.
Wie vollständig nun diese Einspielung immer sein mag: Gesamtausgaben sind nicht dazu gedacht, in einem fort „konsumiert“ zu werden. Die einzelnen CDs von Tomadins wohlklingendem Erbach-Corpus legt man gerne wieder ein, um sich mit den glanzvoll-gravitätischen Eröffnungssätzen, die den Vergleich etwa mit Orgeln in Norddeutschland oder Thüringen nicht zu scheuen brauchen, in die Atmosphäre eines festlichen Gottesdienstes zu versetzen oder den differenzierten Obertonaufbauten der Flauti nachzuspüren.
Markus Zimmermann