Johann Sebastian Bach

Choralpartiten – Präludien und Fugen

Verlag/Label: 2 CDs, organum|classics, Ogm 172011 (2017)
erschienen in: organ 2018/01 , Seite 54

4 von 5 Pfeifen

Mit einer attraktiven, opulent gestalteten und sehr empfehlenswerten Doppel-CD wartet die polnische, derzeit an der Mainzer Musikhochschule (Johannes Gutenberg-Universität) wirkende Organistin auf. Anna Pikulska vereint hier die beiden großartigen Orgeln aus der ers­ten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Tobias Heinrich Gottfried Trost in Waltershausen und von Gottfried Silbermann im Freiberger Dom. Das ist eine glänzende, bisher noch nicht verwirklichte Idee und zugleich der besondere Aspekt dieser Audio-Dokumentation, denn in der Gegenüberstellung dieser Höhepunkte des thüringischen und säch­sischen Orgelbaus mit sehr konträren Konzeptionen eröffnen sich natürlich beste Vergleichsmöglichkeiten.
Die Basis dafür bilden ausgewählte Werke aus dem Bach’schen Orgelschaffen, obwohl sich historisch kein direkter Bezug von Bach zu den beiden Orgeln nachweisen lässt. Vor allem sind natürlich die eingespielten Choralpartiten mit ihren kontrastierenden Variationssätzen vorzüglich geeignet, die klanglichen Charakteristika der Orgeln en detail aufzuzeigen. Zusätzlich präsentiert Anna Pikulska einige prägnante und gängige Plenum-Stücke wie BWV 533, 541 oder 544 sowie die vergleichsweise seltener gespielten Präludien und Fugen BWV 536, 531 oder 550.
Die Interpretin erweist sich in ihrem Spiel hinsichtlich aufführungspraktischer Details als bestens informiert. Dies spürt der Hörer in der klugen Tempowahl, der Artikulation und der rhetorischen Gestaltung; wobei Pikulska einerseits sensibel mit der Profilierung von Themen und Strukturen verfährt, andererseits ab und zu in dieser Hinsicht sogar noch mehr hätte tun können. Respekt gebührt ihrem souveränen Umgang mit den beiden gewiss nicht ganz einfach zu spielenden Instrumenten, die sich in Traktur, Spieltisch- und Tastenmensuren deutlich unterscheiden. Sie vermeidet bis auf wenige Ausnahmen bei den Partiten „extreme“ Tempi und nimmt Rücksicht auf die räumlich-klanglichen Verhältnisse der auch akus­tisch jeweils ganz unterschiedlichen Kirchenräume.
Pikulskas Registrierungen sind feinsinnig und bestens durchdacht, manchmal auch etwas unorthodox, demonstrieren aber eindrucksvoll die Klangpaletten beider Orgeln. In Waltershausen meidet sie merkwürdigerweise (!) bei den Plenumstü­cken bis auf die finale Partita in BWV 770 die glanzvolle achtfache Hauptwerksmixtur. Trotzdem gewinnt das Pedal im Plenum von BWV 544 mit den beiden Posaunen 16’ und 32’ dank der obertonreichen Lingualstimmen Trosts kaum die Überhand. Lediglich die Posaune 32’ ist bei schnellen Passagen in der Ansprache hörbar überfordert. In Freiberg hätte sich die Möglichkeit geboten, die originalen Registrieranweisungen von Silbermann, überliefert für die beiden Instrumente in Fraureuth und Großhartmannsdorf, perfekt (sozusagen eins zu eins) vorzustellen. Das ist hier natürlich kein Makel, aber eine in gewisser Hinsicht verpasste Chance, denn diese große Orgel empfiehlt sich dafür geradezu.
Überaus ansprechend ist auch das mit prächtigen Farbfotos – und mit siebzig Seiten fast ein wenig hypertroph geratene – informative Book­let gestaltet. Mit knappen analytischen Texten beschreibt Antonie von Schönfeld die einzelnen Kompositionen unter der Überschrift „Frühe Orgelwerke von Johann Sebastian Bach“. Das trifft zwar auf den größeren Anteil des Programms zu, aber mit den Präludien und Fugen in h-Moll und G-Dur BWV 544 bzw. BWV 541 bewegt sich die Autorin mit dieser verallgemeinernden Zuordnung natürlich auf mehr als dünnem Eis, selbst wenn man die unsichere Datierungsfrage bei Bach als (schwaches) Gegenargument bringen wollte, was gerade hier jedoch nicht überzeugend greift.
Fundiert und historisch sowie instrumentenbaulich umfassend widmet sich Tobias Haase der Schilderung des Orgelbaus in Sachsen und Thüringen in Relation zu den beiden herausragenden Orgelbaumeis­tern Trost und Silbermann. Die Angabe der ‚weiterführenden Literatur‘ fällt dabei mit nur zwei Titeln fast belanglos aus und spart merkwürdigerweise Hinweise ausgerechnet auf die einschlägigen und in jedem Falle grundlegenden Standardwerke bzw. Monografien über die beiden Orgelbauer aus. Dispositionen, Registrierungen sowie die Vita der Organistin ergänzen das zweisprachige Booklet.

Felix Friedrich