Walcha, Helmut

Chorale Preludes Vol. 1

Verlag/Label: Naxos 8.572910 (2012)
erschienen in: organ 2013/01 , Seite 54

3 von 5 Pfeifen

Er war einer der herausragenden Bach-Interpreten und Orgellehrer des 20. Jahrhunderts und in mancher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Helmut Walcha (1907-91). Der Komponist Walcha hingegen, dessen Orgelvorspiele in vier Bänden (Ed. Peters) erschienen sind, ist fast vollständig der Vergessenheit anheim gefallen – zu Unrecht, wie die vorliegende Aufnahme seines international bekannten Meis­terschülers Wolfgang Rübsam eindrucksvoll belegt.
Die Orgelwerke sind inspiriert von den zahlreichen Orgelimpro­visationen, die Walcha in seinen Frankfurter „Samstags-Vespern“ zu spielen pflegte. Das Formenrepertoire ist erstaunlich breit gefächert bei einer teils avancierten Tonsprache, von strengen kontrapunktischen Satztechniken wie Kanons bis hin zu freien, improvisatorisch anmutenden Vorspielen. Gewiss: Seine Musiksprache ist nicht „modern“; serielle oder dodekaphonische Elemente sucht man vergebens. Im Sinne des von Oskar Söhngen propagierten Konzepts der „Erneuerten Kirchenmusik“ spiegeln sie aber die in einem neuen Aufbruch befindliche protes­tantische „kirchenmusikalische Welt“ nach dem 2. Weltkrieg wieder.
Als herausragender Schüler Walchas ist Rübsam prä­des­tiniert, diese Musik „authentisch“ zu interpretieren; jedoch ist er selbst ein zu unabhängiger Interpret, als dass er sich sklavisch an die Vorgaben des Komponisten halten würde. So verändert er mitunter die Registriervorschriften (z. B. bei Nun komm der Heiden Heiland, wo der Cantus firmus nicht im geforderten Zungenregister erklingt, sondern mit der Quintadena), verändert die Artikulation (besonders im Vorspiel zu Herzliebs­ter Jesu durch Überlegato im Pedal), verschärft Rhythmen wie bei O Heiland reiß die Himmel auf, um dem Satz mehr Profil zu verleihen, oder verändert leicht Kadenzen, um (noch) mehr Klarheit zu gewinnen. Diese Abweichungen sind dezent, dennoch bewirken sie eine Profilierung des eigentlich Gemeinten: Die Wirkung der Musik steht bei Rübsam immer im Vordergrund.
Rübsam wählte die Orgel der First Presbyterien Church in Springfield in Illinois (USA), erbaut von Johan Brombaugh & Associates of Eugene (Oregon), die 2004 mit drei Manualen (Great, Swell, Rückpositiv Pedal (sogar mit lingualem 32-Fuß!) errichtet wurde. Das Instrument verfügt über eine reiche Palette aparter Einzelstimmen, vermag dafür im Plenum mangels Gravität nicht ganz zu überzeugen. Ein weiterer Nachteil ist hier die den Spiel- bzw. Hörfluss störende Windstößigkeit.
Eine Gesamteinspielung der Choralvorspiele Helmut Walchas auf CD birgt Risiken. Die Abfolge von kleinen Vorspielen wirkt auf Dauer ermüdend. Dass diese Einspielung trotzdem eine Entdeckung sein könnte, liegt an dem überragenden Können des Interpreten. Des Weiteren bietet sie ein geradezu kompendien­haftes Repertoire-Kaleidoskop von Formen als Inspirationsquelle für eigene (kontrapunktische) Improvisationsversuche. Und nicht zuletzt: Sie ist ein „sprechendes“ Klangdokument einer Zeit, die nach und nach immer mehr in Vergessenheit geriet und die neu zu entdecken – und zu bewerten – sich lohnt.

Volker Ellenberger