Reger, Max

Chorale Fantasies

(mit Bonustrack: Heinrich Reimann, Choralfantasie „Wie schön leuchtet der Morgenstern“)

Verlag/Label: 2 Hybrid-SACDs, Dabringhaus und Grimm, MDG 920 1945-6 (2016)
erschienen in: organ 2016/01 , Seite 56

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Wer sich als Interpret heute den Orgelwerken Max Regers widmet, sieht sich spezifischen Herausforderungen unterworfen. Da ist zum einen der Notentext, der nachweislich nicht unbedingt immer Regers tatsächliche Meinung widerspiegelt. Aus dem Veröffentlichten die ipsissima vox Regeri herauszufiltern, sie hörbar zu machen, stellt vorab ein bedeutendes hermeneutisches Problem bei Reger dar: „Das Vertrauen, das man in die Niederschrift des Komponisten setzen darf, ist relativ. Der Interpret wird nicht nur herausfinden müssen, wie seine Zeichen zu verstehen sind, sondern auch, wie angemessen sie seinen jeweiligen Werken sind. Nicht alle Meister haben die Sicherheit und praktische Deutlichkeit der Notation entwi­ckelt. […] Höchste Genauigkeit finden wir bei Bartók, Verfeinerung, die an Überreiztheit grenzt, bei Reger und Berg …“ (Alfred Brendel: „Wie wörtlich darf man Liszt nehmen?“ 1976).
Regers Notentext bietet, positiv formuliert, die äußerste Differenzierung eines Seelenzustands oder von Gemütsregungen. Sie zu entdecken, sie durch Transformation zu adaptieren, ist eine erste Hürde der Interpretationsaufgabe. Zum an­deren: Reger gesteht ein, dass seine „Orgelsachen“ schwer sind, „es gehört ein über die Technik souverän herrschender geistvoller Spieler dazu“ (Brief an G. Beckmann vom 31. Januar 1900). Was aber ist ein „geistvoller“ Spieler? Regers Empfinden war stets geprägt von einer christlich zu nennenden Haltung: „Wie für Liszt, so ist auch für Reger das Leben nichts andres als eine Reihenfolge von Präludien zu einem unbekannten Gesange, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt! Der Tod! – für Reger im Widerstreit der Mächte dieser Welt die einzig reale Größe, die alles niederschmetternde Gewalt. Den Tod in seinem Herannahen, in seinem Wirken zu schildern, wird er nicht müde. Er sieht ihn als Tröster, er sieht ihn in seiner altdeutschen Gestalt als Sensenmann, er sieht ihn in richtender Majestät“ (Karl Straube).
Regers Auswahl an (protestan­tischen) Liedern für seine großen Choralfantasien ist also geprägt von Texten, die dezidiert von den letzten Dingen handeln. Dabei ist es ein scheinbarer Widerspruch, dass alle Melodien in Dur gesetzt sind. Es muss der als geistvoller Spieler gelten, der wie Max Reger die Textvorlagen als Inspirationsquelle für diese Musik entdecken kann. Das mag u. U. bedeuten, dass die sonst gern zelebrierten Schlussapotheosen mit ihren verbreiterten Tempi nicht „letztes Wort“ sind, sondern dass da noch eine weitere Dimen­sion vorhanden ist … Das Ziel ist nur vorläufig, die Vollendung noch nicht erreicht.
Nach der Skizzierung dieser quasi präliminarischen Schwierigkeiten stellt sich berechtigt die Frage, ob eine Aufnahme von Regers Orgelwerken überhaupt adäquat rezensiert werden kann – zumal die Musikgeschichte seit Regers Tod manche erheblichen Um- und Abbrüche erlebt hat (man denke nur an die bald einsetzende Orgelbewegung mit ihrer einseitigen ästhetischen Prämisse, dass nur die Barockmusik mit ihrer polyphonen Musik als alleinige Leitlinie für die Beurteilung von Musik zu gelten habe), die eine Rekonstruktion der ästhetischen Grundlagen erschwert, wenn nicht gar unmöglich erscheinen lässt. Zu­dem ist Regers eigenes Bemühen, eine „Tradition“ zu schaffen, wohl als gescheitert zu betrachten: Ein klares „Reger-Bild“ hat sich in der Musikgeschichte nicht etablieren können.
Als Exempel für eine Rezension soll hier die Fantasie über den Choral Freue dich o liebe Seele dienen. Diese vollkommen zu Unrecht nahezu vergessene Fantasie eröffnet als Opus 30 den Reigen der sieben Choralfantasien, die Adalbert Lind­ner durchaus zutreffend als Eröffnung des Totentanzes bezeichnete. Schon der Beginn stellt den Interpreten vor die Frage, ob der gebrochene F-Dur Dreiklang lediglich als Geste aufzufassen (also gewissermaßen „neutral“ zu spielen) ist oder ob es sich hierbei nicht um den Freudenausbruch der Seele handelt („Freue dich sehr“). Der Interpret dieser Einspielung tendiert zur ersteren Lösung, da er die Wiederholung (T. 10) in einem rascheren Tempo wählt (quasi vivacissimo assai), mithin den Zusammenhang nicht darstellen möchte. Wie immer sich der Spieler entscheidet, es sollte ein Kontrast zwischen dem anfänglichen F-Dur und dem ers­ten Einsatzton im Pedal mit seinem tiefen E im Organo pleno hergestellt werden. Dies bedeutet, dass der alleinige Pedalton genügend Zeit benötigt, um diese neu hereinbrechende Klangwelt zu inszenieren. Mit Beginn des Pedaltons verändert sich die Faktur des Satzes: typische Akkordballungen im Adagio. Ist dieser kurze Teil verbunden mit dem Anfang oder herrscht hier ein Affektwechsel ohne Vermittlung vor? Szabó scheint an Ersteres zu denken, denn das Adagio steht (lassen wir manche Temposchwankungen aus) in einem Tempoverhältnis zum Anfang (ungefähr halbes Tempo). Das Adagio endet mit einem sehr kurzen, konzentrierten Diminuendo – eine Herausforderung an den Instrumentator, der der Interpret auch sein muss. Hier ist eine der wenigen objektiven Kritiken angebracht: Der Interpret entzieht sich der Herausforderung einer stu­fenlosen Dynamik, indem er schlicht den Kontrast zwischen Forte und Pianissimo wählt – mit dem Ergebnis, dass im Nachhall der Klänge die Fortführung des Pedals allenfalls „erahnbar“ ist.
Mit dem Einsetzen der Variationen scheint er grundsätzlich seine Füße auf „sicherem“ Boden zu haben: Die Möglichkeiten der Deutungen sind durch die Textvorlage erheblich eingeschränkt. Schon die erste Variation (Vers 1) bietet Szabó jedoch Gelegenheit, seine zweifellos vorhandene Virtuosität zur Schau zu stellen, allerdings unter Missachtung der Deutlichkeit in den Nebenstimmen. Sicherlich ist diese Variation die „schlechteste“, oder anders ausgedrückt, bietet sie baro­ckes Epigonentum; gleichwohl verstößt der Interpret hier eindeutig gegen die Tempovorschrift moderato.
Sehr schön in der Registrierung fällt dagegen die nächstfolgende Va­riation aus: Das Dunkle der Nacht kommt dem romantisch geprägten Instrument sehr entgegen. Dabei setzt Szabó auf die Entwicklung der Oberstimme unter Auslassung von strukturierenden Atemzeichen (die Reger auch nicht vorschreibt). Die melismatische Variante wird zu einer unendlichen Kantilene. Leider kann der Interpret die Pferde nicht im Zaum halten, weshalb im Takt 68 das Accelerando sehr überraschend und abrupt erscheint; hier wird die große Linie zugunsten einer in der nächsten Variation groß angelegten Steigerung verlassen.
Diese dynamische sowie Temposteigerung findet ihr Ziel in der Strophe „Die Welt, Teufel, Sünd …“
– dem ersten Höhepunkt des Werks und für Reger eine dankbare Vorlage für eine virtuose wie harmonisch weit ausgreifende Variation. Das Allegro vivace wird in ein Prestissimo verwandelt, worüber die dialogische Struktur der Oberstimmen unweigerlich verloren geht. Der Spieler verpasst damit die Chance, näher an der Textvorlage spielend eine „sprechende“ und damit textausdeutende Fassung zu kreieren. Sehr überzeugend gelingt indes das Liedzitat „Wie schön leucht’t der Morgenstern“ (T. 99), das als Überraschungsmoment die nächstfolgende Variation einleitet. In der Mitte der Fantasie steht die Strophe 6 überschrieben mit „Adagio con espressione“. Leider wurde die fortführende und erklärende Angabe wohl übersehen, denn das „Espressive“ fehlt ganz und gar. So fragt der Rezensent auch, wo in T. 128 etwa das fried- und freudvolle Dahinfahren bleibt, wo wird Jesus als Straße und Beistand musikalisch dargestellt?
Überzeugend hingegen die nächs­te Variation, die das Dahinscheiden als einen Verlust der Sinne musikalisch äußerst effektvoll umzusetzen weiß – wie auch den nachfolgenden Kontrast, der Jesus als das Licht und den Hort anspricht: Mit der gebotenen Ruhe und der dunklen Farbpalette der Orgel setzt Szabó diesen Vers um. Der Schluss-Vers: Wie sonst üblich versteht es der Spieler, die abschließende Strophe im Organo pleno-Klang als hymnischen Abschluss zu bauen – der Text mit seiner Freudenaussage will ihm durchaus auch Recht geben. Im Gegensatz zu den anderen Choralfantasien erscheint diese in der für Reger eher ungewöhnlichen Ton­art F-Dur – die sich als eine „warme“ und „weiche“ Tonart herausstellt. Als Finis triumphans will sie nicht so recht überzeugen: Es schwingt bei aller Freude immer noch diese Erdenschwere trotz der Aufforderung „vergiss all Not und Qual“.
Die Aufnahme, entstanden an Instrumenten der „Reger-Epoche“ im weitesten Sinne, kann zur Gänze nicht überzeugen. Vielleicht ist dies auch eine Generationen- und/oder Altersfrage. Die Möglichkeiten der Deutungen sind aufgrund der weiterbestehenden musikgeschichtlichen Ambiguitäten in Bezug auf die Rezeption Regers größer, vielfältiger als bei (fast) jedem anderen Komponisten der Spätromantik; dass es dann auch rasch zu Fehldeutungen kommen kann, liegt in der Sache begründet. Während der Rezensent in dieser Choralfantasie ein durch und durch lyrisches Werk sieht (das damit eine Ausnahmestellung im Reigen der Choralfantasien einzunehmen vermag), setzt Szabó mehr auf „bewährte“ Kontraste, wobei mitunter der Verlust von Zusammenhang droht, während zum Teil äußerst leise Registrierungen das Werk eher in ein mystisch versunkenes Licht tauchen, wo die Poesie von nachrangiger Bedeutung ist.
Trotz aller unterschiedlicher Erwartungen sowie Vorstellungen über das Zelebrieren Reger’scher Orgelmusik ist diese Aufnahme wegen der imposanten Instrumente, dem unzweifelhaften spielerischen Können von Balázs Szabó – und dem viersprachigen bebilderten Book­let (D/E/F/Ungarisch), das alle wichtigen Informationen zu Werk, Interpret und Instrumenten enthält – von diskophilem Interesse.
Im Wortsinne bereichernd ist das mitgelieferte Bonusmaterial: die Aufnahme des Vorläuferwerks zur „Morgenstern­fantasie“, Heinrich Reimanns Choralfantasie Wie schön leuchtet der Morgenstern – eine fast schon notwendige Einspielung, um die grundlegende Verschiedenheit beider Komponisten zu illus­trieren und das Besondere des Reger’schen Werks herauszustreichen.

Volker Ellenberger