Delplace, Stéphane

Chacone pour Grand Orgue

Collection Organ Prestige, hg. von Frédéric Denis

Verlag/Label: mit CD, Editions Delatour, DLT 1886 (2010)
erschienen in: organ 2011/01 , Seite 61

Wen wundert es heutzutage, wenn auch die Musikverlage ihr Notensortiment mehr und mehr straffen (müssen) und sich überwiegend auf halbwegs „Verkäufliches“ beschränken. Für Zeitgenössisches, Unkonventionelles oder wirklich Neues bleibt da oft nur wenig Platz. Umso erstaunlicher ist es, wenn es (immer noch) Verlage gibt, die sich mit „Nischenprodukten“ am Markt halten können. Ein solcher Verlag – klein, aber fein – sind die Editions Delatour France.
In der Serie „Organ Prestige“, für die der Pariser Organist Frédéric Denis verantwortlich zeichnet, erschien 2010 u. a. auch die Chacone für Orgel von Stéphane Delplace. Jahrgang 1953, wurde Delplace in den Fächern Orgel und Klavier am Pariser Conservatoire National Su­périeur de Musique ausgebildet; 2001 gewann der überaus produk­tive Komponist den renommierten „Prix Florent Schmitt“. Die vorliegende Chacone, zunächst ohne Zuordnung an ein bestimmtes Instrument konzipiert, erhielt ihre gültige Gestalt schließlich als Orgelwerk und wurde durch den Widmungsträger Denis Comtet uraufgeführt, der sie auch auf CD einspielte.
Dieses Ostinato-Werk bietet eine durchaus gelungene Mischung aus Tradition und Moderne. Schon die Wahl der Tonart c-Moll legt eine gewisse Verbundenheit mit Bachs monumentaler (einziger) Orgelpassacaglia nahe; das Chacone-Thema, klassisch als achttaktige Phrase angelegt, ist chromatisch konzipiert, was dem Komponisten – ähnlich wie im Falle Regers – „Ausflüge“ zu entfernten Tonarten erlaubt. In den insgesamt dreißig Variationen tritt das Thema dabei stets mehr oder weniger verschleiert bzw. verfremdet in Erscheinung. Delplace wird nicht zum Opfer einer vordergründigen oder gar willkürlichen Progressivität, noch leidet er als Komponist an selbstdarstellerischer Gefallsucht. Dies macht den eigen­tüm­lichen Reiz des fast zwölfmi­nütigen Werks aus. Mit sinnlicher Leidenschaft, mitunter auch in wildes Temperament gekleidet, vermag das Stück aufgrund der üppigen Nuancierung immer wieder neu geschaffener Klangvariationen (u. a. Cluster) zu einem eindrucksvollen musikalischen Erlebnis werden.
Die technischen Anforderungen an den Spieler sind indes beachtlich: Pianistisch geschulte Tastensicherheit wird vom Komponisten voraus­gesetzt wie eine virtuose Beherrschung des Pedals. Die Orgel muss für die adäquate klangliche Entfaltung des Variationen-Reigens über ein gewisses klangliches wie dynamisches Volumen verfügen; auffällig ist bei dieser Komposition die häufigere (!) Verwendung des Tons g’ im Pedal, der hierzulande eigentlich nur bei echten Konzertorgeln oder sehr großen Kirchenorgeln vorhanden ist. Damit dieser Umstand nicht gleich zu Anfang zum K. o.-Kriterium für die Aufführung dieser lohnenden Musik wird, gilt es für den Interpreten kreative Lösungen zu finden.
Die Ausgabe bietet einen sauber gedruckten und zuverlässigen Notentext. In manchen Details weicht die dem Notentext beigegebene CD-Aufnahme merkwürdigerweise jedoch ab: so wird die Artikulation der Takte 73 ff. verändert. Gerne hätte der Hörer/Spieler auch erfahren, ob die auf der CD realisierten Registrierungen vom Komponisten stammen oder bereits „Interpreta­tion“ des Widmungsträgers sind. Nichtsdestotrotz sei mit dieser Ausgabe allen professionellen wie nebenamtlichen OrganistInnen der gesamte Orgelkatalog des französischen Spezialverlags wärmstens ans Herz gelegt. Hier werden all diejenigen, die sich am Mainstream vorbei ihre Lust an Neuentdeckungen aparter und ungewöhnlicher Orgelliteratur bewahrt haben, mehr als fündig.

Volker Ellenberger