CertosaOrgelBüchlein

33 Choralvorspiele durch das Kirchenjahr von zeitgenössischen Komponistinnen

Verlag/Label: Certosa Verlag COB, ISMN 979-0-50224-498-9
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/01 , Seite 58

Ist ein Verlag, der ausschließlich Musik von Frauen veröffentlicht, sinnvoll und notwendig? Drei Stichproben in gängigen Choralvorspielsammlungen alteingesessener deutscher Musikverlage offenbaren ein eklatantes Missverhältnis: In einer Sammlung sind überhaupt keine Komponistinnen vertreten, in den anderen beiden liegt der Frauen­anteil bei 1,3 bzw. 2,3 Prozent. Doch die Weltbevölkerung besteht zu rund 49,5 Prozent aus Frauen. Diese Zahlen erinnern fatal an ein Lied aus dem Jahr 1971: „Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind? Der spinnt!“ – Schlimmstenfalls mag es ein Fehlurteil eines alten, weißen, männlichen Musikwissenschaftlers sein: Einen typisch „weiblichen Kompositionsstil“ gibt es wohl nicht – auch nicht im CertosaOrgelBüchlein (COB). Dies schmälert keineswegs den Wert und die Qualität dieser Sammlung, deren Schwierigkeitsgrad auf dem Niveau von D- und C-Organist:innen liegt.
Dem Herausgeber Gisbert Wüst ist mit dem COB – unabhängig von der Frauenthematik – ein großer Wurf gelungen. Endlich gibt es für das altehrwürdige Choralsingen, seit 2015 immaterielles Weltkulturerbe, eine zeitgenössische und nicht auf deutsche Komponisten begrenzte Antwort bei den Choralvorspielen. Zuvor war dieses Genre von drei Phänomenen geprägt: pseudo-pa­chel­belsche Stilistik, deutsches (nicht immer kreatives) Kantoren-Komponistentum und Improvisationsmodelle als Selbstzweck. Dagegen setzt Wüst 13 Komponistinnen aus Deutschland, Italien, Polen, Spanien, der Schweiz, den Niederlanden und den USA, die mit unverbrauchter Außensicht auf den Choral blicken und ihn folglich satztechnisch und harmonisch anders behandeln. Schnell wird klar, dass, will man „anders“, „neu“ oder „modern“ sein, es andere Wege gibt als den quasi ferngesteuerten Weg in eine pseudo-sakrale Pop- und Jazz-Stilistik. Johann Sebastian Bachs namensgebendes Vorbild des Orgel­büch­leins verspricht bereits 1720, was hier 300 Jahre später vorgelegt wird, nämlich „Anleitung, auff allerhand [sic!] Arth einen Choral durchzuführen“.
Die Auswahl der Choräle ist ökumenisch ausgerichtet: Alle Lieder stehen im Evangelischen Gesangbuch und im Gotteslob. Ein besonderes Augenmerk wird – neben Altbekanntem – auf neuere Lieder (z. B. „Holz auf Jesu Schulter“, „Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen“, „Stern über Bethlehem“) gelegt. Dies ist wichtig und hilfreich, denn gerade sie werden in den gängigen Sammlungen äußerst stiefmütterlich behandelt.
Wüst ist ein vielleicht zu akribischer Herausgeber. Die Anzahl der Choräle analog zum vermuteten Lebensalter Jesu festzulegen, ist unnötige Spielerei; gerne hätte hier Theodor Storms „Kleiner Häwelmann“ mit seinem „Mehr, mehr!“ Pate stehen können. Gut gemeint ist, elf der Kompositionen in zwei Tonarten anzubieten, da auf diese „Weise Spieler*innen mit weniger Transpositionserfahrung zugearbeitet werden kann“. Wüst weiß, dass „das Choral-Transponieren an sich eine hervorragende Übung für alle Organist*innen darstellt“. Diese Übung hätte er den „anfahenden Organisten“ (Bach) lassen sollen. – Klage auf höchstem Niveau: Eine größere Anzahl weiterer unterschiedlicher Komponistinnen wäre wünschenswert gewesen. Der Certosa-Verlag hätte dafür sicher geeignete Kontakte gehabt.
„Braucht man das denn wirklich?“ – Eindeutig: Ja! Es kann nicht hingenommen werden, dass die Hälfte der Menschheit an der Komposition von Orgelmusik vermeintlich nicht beteiligt ist. Welcher stilistische und inhaltliche Verlust hier klaglos akzeptiert wird,
offenbart das COB. Ein Muss für jedermann und jedefrau!

Ralf-Thomas Lindner