Claudio Merulo

Canzoni d’intavolatura d’organo, Libro Primo / Canzoni alla Francese für Orgel

hg. von Jolando Scarpa

Verlag/Label: Edition Walhall EW1242
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/04 , Seite 58

Das einzige erhaltene und inzwischen auch digital verfügbare Exemplar der Canzoni d’intavolatura d’organo aus der öffentlichen Bibliothek der Universität Basel diente dem rührigen Musikwissenschaftler Jolando Scarpa als Vorlage für seine Edition von neun Canzonen von Claudio Merulo (1533–1604). Dieser 1592 bei Gardano in Venedig erschienene Druck war die einzige Publikation Merulos noch zu seinen Lebzeiten.
Der auch als Herausgeber überaus aktive Merulo stammte aus der Kleinstadt Correggio in der Emilia-Romagna und erhielt seine erste Stelle an der Kathedrale in Brescia. Doch schon nach nur neunmonatiger Tätigkeit bewarb er sich 1557 erfolgreich am Markusdom in Venedig um die Nachfolge des verstorbenen zweiten Organisten Girolamo Parabosco. Dort ließ er seinem Instrument u. a. ein Flauto all’Ottava hinzubauen, das für die Canzoni alla Francese besonders geeignet erscheint.
Das umfängliche zweisprachige Vorwort informiert über Merulos eifrige kompositorische und editorische Tätigkeit von 36 Bänden mit Werken zeitgenössischer Kompo­nis­­ten und das von Diruta über­lieferte regelmäßige organistische „Duellieren“ des mittlerweile zum ersten Organisten aufgestiegenen Merulo mit Giovanni Gabrieli. 1591 verließ Merulo San Marco und die Stadt Venedig, um in der Folge weitere prestigeträchtige Stellen in Parma (an der berühmten Kirche Steccata), Mantua und Rom anzutreten.
Bei den vorliegenden Canzonen handelt es sich um in der italienischen Orgeltabulatur abgefasste, reich diminuierte Adaptierungen von Instrumentalkompositionen oder von populären Liedern, die mit den Namen historischer Persönlichkeiten oder adliger Familien betitelt wurden. Die Suche nach den motettischen Vorlagen oder den betitelten Persönlichkeiten bleibt indes dem Forschungsdrang des Käufers überlassen. Zum besseren Verständnis des kompositorischen Transformationsprozesses dient ein Vergleich mit den beigefügten gleichnamigen, aber unverzierten Canzoni des aus Heilbronn stammenden Johann Woltz aus seiner 85 Intavolierungen umfassenden Sammlung Nova musices organicæ tabulatura (Basel 1617). Woltz hatte darin Merulos Canzonen auf die unverzierte Grundform zurückgestutzt, was den Interpretierenden sehr entgegenkommen dürfte, da somit der kompositorische Prozess der kunstvoll elaborierten Umformung nachvollziehbar wird. Mit einer entsprechenden Anmoderation könnte eine Gegenüberstellung von diesen schlichten Vorlagen und der durch virtuose Verzierungskunst weiterentwickelten Canzonen Merulos ein Konzert beleben.
Spieltechnisch sind die im Alla­breve-Takt notierten Canzonen durch die ausnotierten Diminutionen und das virtuose Figurenwerk mit Zweiunddreißigstel Noten im extrem virtuosen Bereich am Rande der Spielbarkeit angesiedelt und auf die massearmen Trakturen der italienischen Instrumente zugeschnitten.

Josef Miltschitzky