bearb. von Werner Freiberger
Brevissima!
Festliche romantische Orgelstücke in Kurzfassungen
In der Kürze liegt bekanntlich die Würze. Dies hat uns kein Geringerer als Shakespeare in seinem Hamlet mit auf den Weg gegeben. Und in Klerikerkreisen kursiert der Spruch: Du darfst über alles predigen, nur nicht über – da schwanken dann allerdings die Zahlen – sieben, acht oder auch zehn Minuten. Jüngst hat sich der Papst auf acht Minuten festgelegt, als er bei einer Generalaudienz Mitte Juni seinen Priestern kurze Predigten empfahl.
Und wie lange soll bzw. darf ein Orgelnachspiel zum Abschluss des Gottesdienstes dauern? Eine berechtigte Frage, wenn doch, wie etwa in der katholischen Kirche, die Leute die Kirche nach dem Schlusssegen meist fluchtartig verlassen und ohnehin niemand zuhört. Leider eine traurige Wahrheit, aber das Orgelnachspiel als Bestandteil der katholischen Liturgie gibt es de facto nicht. So ist es für manchen Organisten zuweilen frustrierend, hat er doch viele Stunden – mitunter in kalter Kirche – fleißig geübt für ein virtuoses Finalstück, und dann hört ihm niemand zu.
Ob es da Sinn macht, die ohnehin überschaubare Länge französischer Toccaten oder Sorties zu kürzen? Wenn eh keiner gewillt ist, bis zum Schlussakkord in der Kirche zu verweilen, dann macht es keinen Unterschied, ob die Widor-Toccata nach zwei statt sechs Minuten endet. Allenfalls der Frust des Organisten hält sich in Grenzen.
Die Auswahl der vorliegenden Stücke ist ein „Best of“ sogenannter „Rausschmeißer“: die bekannten Toccaten von Boëllmann, Dubois, Gigout, Fletcher und natürlich Widor, die eher weniger bekannten Toccaten von Renaud und Nevin (beide in d-Moll), das kirmesartige Sortie in Es von Lefébure-Wély, die Fanfare von Lemmens sowie die Finalsätze aus Guilmants 1. Sonate wie auch Viernes 1. Symphonie.
Es sind – cum grano salis – durchweg Stücke mit gehobenem technischen Anspruch. Und da stellt sich die Frage, ob die gekürzten Fassungen tatsächlich, wie der Bearbeiter im Vorwort kundtut, eine Erleichterung für den Einstieg ins jeweilige Werk sind. Der Laie mag es nicht unbedingt merken, dass ihm die Kurzfassung vorgespielt wurde, der Profi tut sich aber schwer ob der unausgewogenen Proportionen. All die genannten Stücke bewegen sich in einem Zeitrahmen von ca. fünf bis maximal acht Minuten, und diese überschaubaren Minuten sollten einem Musiker die Stücke schon Wert sein. Denn was unter der Kürzung leidet, ist vor allem die Balance zwischen schnellen Eckteilen und ruhigem Mittelteil, macht doch gerade die die Dramaturgie des jeweiligen Werks aus. Geradezu unverständlich erscheint die Kürzung der ohnehin mit rund drei Minuten Dauer schon kurze Toccata von Gigout.
Mein Fazit: Lieber die Faust in der Tasche machen (aber erst nachdem der letzte Ton verklungen ist) und selbst die Schönheit dieser durchweg gefälligen Musik in voller Länge genießen. Und sollte eines der hier genannten Werke zum Auszug bei einer Trauung angefragt werden, sollte man vorab ein höheres Honorar verlangen, quasi als „Schmerzengeld“ für die nicht geschenkte Aufmerksamkeit der Hochzeitsgesellschaft. Aber wer weiß, vielleicht bedankt sich am Ende dann doch noch jemand für den feurigen, in sich stimmigen Kehraus.
Wolfgang Valerius