Bach’s Missing Pages – An Expanded Orgelbüchlein
Sietze de Vries an der Orgel der Martinikerk in Groningen und der Petruskerk in Leens (Niederlande), Film von Will Fraser
Der Titel Bach’s Missing Pages führt in die Irre – denn keineswegs fehlen in Bachs Manuskript des Orgelbüchleins irgendwelche Seiten! Vielmehr sind zahlreiche Seiten leer geblieben, die Organisten, Komponisten und Musikwissenschaftler fast mehr beschäftigt haben als die beschriebenen. Das „Orgelbüchlein Project“ hat dazu animiert, die leeren Seiten, die ja alle eine Überschrift haben, mit neuen Kompositionen zu füllen.
Der Organist Sietze de Vries geht einen völlig anderen Weg, denn schon im Vorwort des Orgelbüchleins kommt das Wort „Komposition“ nicht vor. Vielmehr wird „Anleitung gegeben“ und die Möglichkeit in Aussicht gestellt, „sich im Pedal studio zu habilitiren“ – praktische Dinge also. So versteht de Vries die auskomponierten Choräle weniger als Kompositionen denn als Improvisationsvorlagen. Tatsächlich muss man zugestehen, dass zu Bachs Zeiten der größte Teil der Orgelmusik improvisiert war. Es gab zu wenig Kopisten, der zu Bachs Zeiten übliche Kupferstich für Noten war aufwendig und teuer – ebenso das Papier. Die Lichtverhältnisse am Spieltisch waren durch flackernde Kerzen alles andere als befriedigend, vom gelegentlichen Luftzug, der die einzelnen Seiten wegwehen konnte, ganz abgesehen. Alles gute Gründe dafür, ohne Noten zu spielen.
De Vries beschreibt Improvisation für die Generation Scheidemann, Buxtehude, Bruhns und Bach als eine Art Muttersprache, eine Sprache, die durch Hören, Analysieren und Nachahmen zum eigenen Verständigungsmittel wird. Lesen und Schreiben lernt ja auch ein Kind beim Spracherwerb erst viel später. Irgendwann hat sich aus einer improvisierenden Musikerschaft eine Literatur spielende Generation, wir [sic!], entwickelt. Improvisation ist etwas Besonderes geworden. De Vries gibt zu bedenken, wie (und ob überhaupt) Kinder ihre Muttersprache lernen könnten, wenn sie mit Lesen und Literatur anfangen müssten.
Auf der CD-ROM spielt de Vries alle 46 (= 45 Melodien; „Liebster Jesu, wir sind hier“ kommt zweimal vor) von Bach komponierten Orgelbüchlein-Choräle ein und erklärt ausführlich die Klangwelt der beiden Barockorgeln der Martinikerk in Groningen und der Petruskerk in Leens – allgemein, aber immer auch mit der Frage, wie man Bachs Choräle auf einer Orgel der Entstehungszeit der Choräle am besten registrieren kann. Allein diese Ausführungen sind den Kauf dieses einzigartigen Mediums vollauf wert! Zusätzlich improvisiert de Vries über 45 weitere Choräle. Dabei widmete er sich Chorälen, die heute noch gesungen werden bzw. aus anderen Zusammenhängen bekannt sind. (Auf den beiden beiliegenden CDs sind nur die Bachschen Bearbeitungen und die Improvisationen ohne alle weiteren Erläuterungen von de Vries aufgenommen worden.)
Um die von de Vries verfolgte Idee zu verstehen, reichen tatsächlich 45 Improvisationen völlig aus. Bei einer größeren Auswahl wäre die Gefahr von Wiederholungen zu groß gewesen, denn er weiß wohl, dass er nur „in the style of Bach“ improvisiert, aber auch, dass er würde „never reach the level of Bach“. Er erklärt an Beispielen, wie Bach seine Ideen ausgeführt hat, wie er musikalische Motive (und er spricht ausdrücklich nicht von „barocker Rhetorik“) verarbeitet. Der Kanon etwa ist eine einfache und praktische Improvisationsmethode und klingt gut. De Vries weiß, dass man in den aufeinanderfolgenden Stimmen des Kanons die Nachfolge Jesu Christi sehen könnte, ebenso die Aufforderung, den zehn Geboten zu folgen. Er weiß aber auch, dass man sich die Kanonstimmen quasi zurechtspielen kann/muss. Auf welcher Tonstufe beginnt die zweite Stimme, besteht die Notwendigkeit, den Rhythmus oder gar einen Ton aus harmonischen Gründen zu verändern?
Bei seiner Adaption der Bachschen Techniken und Ideen bleibt de Vries aber auch selbstdenkender Musiker. Er übernimmt Gedanken, führt sie aber weiter. So legt er z. B. die Choralmelodie auch in den Bass bzw. ins Pedal.
Alles in allem hat de Vries seine musikalische Karriere auch als Improvisator begonnen und sich erst später dem Literaturspiel zugewandt. Improvisation – das kann man hören – ist seine Muttersprache, die er auch (!) an den Orgelbüchlein-Chorälen Bachs gelernt hat. Selten war eine Aufnahme so lehrreich und informativ und hat zugleich so viel Lust gemacht, es sofort selbst auszuprobieren. Schade, dass man für eine neuen Sprache doch „etwas“ Vorlauf benötigt. Bachs originale Klangwelt kann man aber fast nicht besser kennenlernen als bei de Vries. Wunderbar!
Ralf-Thomas Lindner