Jean-Claude Zehnder

Bach spielen auf der Orgel

Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wies­baden 2020, 128 Seiten
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2020/04 , Seite 58

So schmal das hier vorliegende Bändchen seinem Umfang nach ist, so profund und inspirierend ist gleichwohl das, was es inhaltlich bietet. Angelegt als Ergänzung zur neuen zehnbändigen Ausgabe der Orgelwerke Bachs (Breitkopf, 2018) wird da auf kaum 125 Seiten ein weites Spektrum solcher Aspekte aufgefächert, die für die Interpretation Bachscher Orgelmusik von Bedeutung sein können – insofern als Anspruch gilt, mit der (aktuellen) klanglichen Realisierung der vom Komponisten (ursprünglich) intendierten möglichst nahe zu kommen.
Als Autor zeichnet Jean-Claude Zehnder verantwortlich, der selbst vier Bände der neuen Bach-Orgelausgabe betreut hat und auf eine jahrzehntelange Erfahrung als Organist und Leiter einer Orgelklasse an der Schola Cantorum Basiliensis zurückblicken kann. OrganistInnen verschiedenen Könnens und Inte­resses den faszinierenden Kosmos Bachscher Orgelkompositionen na­hezubringen und jene Leidenschaft zu wecken, die eine inspirierte Interpretation erst ermöglicht – darum geht es Zehnder.
Nicht systematisch-umfassende Quellendarstellung, sondern zwischen Wissenschaft und Praxis zu vermitteln – so lautet das Programm. Dabei stehen Fragestellungen werkhistorischer wie aufführungspraktischer Art im Fokus. Eingangs sind es solche, die die Quellenlage, (zeitgenössische) Instrumente und des Komponisten eigene Registrierpraxis betreffen. Es folgen Ausführungen zu Aspekten wie Fingersatz, Pedal-Applikatur und der sogenannten Absprache der Pfeifen; historische Dokumente zu Bachs eigenem Tastenspiel werden befragt und es wird die interpretatorische Relevanz unterstrichen, die in der Beschäftigung mit taktart-bezogenen Bewegungscharakteristiken sowie der komplexen Frage der Tempowahl liegt.
Von solcherart Grundorientierung für die Gestaltung Bachscher Orgelmusik ausgehend differenziert der Autor nachfolgend weitere wesentliche Gesichtspunkte aus. Unter der Kapitelüberschrift „Die ,Hohe Schule‘ des Orgelspiels“ finden sich konkret-aufschlussreiche Hinweise etwa zur Verzierungspraxis und Ausschöpfung von klanglichen Effekten durch Manualwechsel. Zudem markiert Zehnder eher prinzipielle Gesichtspunkte, die in Interpretationen zu berücksichtigen sich lohnt: etwa die stilistische Entwicklung im orgelkompositorischen Schaffen Bachs; oder auch solche Aspekte, die einer hermeneutisch ausgerichteten Annäherung dienlich sein können (Textausdeutung / Proportionierung / Zahlensymbolik).
Anmerkungen zur Interpretation von acht ausgewählten Werken runden schließlich die Ausführungen ab. Selbstredend, dass dies alles angesichts der Komplexität der Thematik in exemplarischem Sinne zu lesen ist. In dieser Perspektive indes steht ein Handbuch im besten Sinne zur Verfügung: kenntnisreich, erfahrungsgesättigt und pragmatisch. Stimmig wirkt denn auch, dass der Autor seine Leserschaft z. T. unmittelbar anspricht („wir“ / „ihr“-Wendungen) und damit jenen Appell glaubwürdig verstärkt, den sein Büchlein formuliert: sich als OrganistIn über die intensive Beschäftigung mit den hier aufgefächerten Aspekten inspirieren zu lassen zu je eigenen interpretatorischen Entscheidungen.

Gunter Diehl