Bach / Reger
Bach arranged by Reger
Toccatas 910916
4 von 5 Pfeifen
Begründete Vermutungen wie auch eingehendere Untersuchungen legen nahe, dass die Toccaten BWV 910916 etwa in der Zeit von 1707 bis 1713 entstanden sind, also in der Mühlhausener bzw. Weimarer Epoche Bachs. Die prinzipiell pedallosen, jedoch für clavierte Instrumente allgemein geschriebenen Werke müssen keineswegs dem Cembalo vorbehalten bleiben in manchen Gesamtausgaben des Bachschen Orgelwerks sind sie darum voll eingegliedert. Ihre Spieldauer kann mit den meisten großen Pedaliter-Kompositionen konkurrieren (zwischen 8 und etwa 13 Minuten).
Ihre mehrteilige formale Anlage erinnert noch an Buxtehude, respektive seine norddeutschen Kollegen, an seine Toccatenvariantenfugen, wie Formenkundler gerne zu sagen pflegen. Mehrere Abschnitte wechseln sich entsprechend kontrastreich ab: Virtuose Kaskaden mit ausdrucksvollen Adagios, ausmalende Rezitative mit energischen Fugen, rauschende Läufe mit sanft-besinnlichen Akkordfolgen. Bach betreibt hier (noch) nicht die durchdachte Polyphonie seiner bekannten Werke; in den Fugen, auch in den nicht streng kontrapunktisch angelegten Abschnitten herrscht eher ein fröhliches Musizieren, das sich gern fortspinnt BWV 910 in fis hat beispielsweise fast 200 Takte.
Und jetzt kommt Max Reger ins Spiel, der gleichermaßen traditionsverbundene wie innovative Komponist der Postromantik, der Bach stets als leuchtendes Vorbild pries (Anfang und Ende aller Musik), der Komponist, der die virtuose Orgel wieder mehr ins Bewusstsein der (musikalischen) Öffentlichkeit rückte mit Orgelwerken, deren spieltechnische Schwierigkeit auch heute noch viele OrganistInnen fürchten. Neben seinen rund 150 Opera, die er in seinem kurzen, rastlosen Leben schuf, war Reger auch ein eifriger Bearbeiter von Werken etlicher Kollegen vom Barock bis in seine Zeit (etwa Bearbeitungen aus Wagners Ring für zwei Klaviere oder die Ergänzung der Bachschen zweistimmigen Inventionen zum Trio-Spiel auf der Orgel). Von den sieben Toccaten BWV 910916 bearbeitete Reger fünf für große Orgel. Und da ist man wirklich verblüfft: Ist das nun Bach in Regers Frack oder ist das der Oberpfälzer mit der Perücke des Thomaskantors?
Christoph Schoener, geboren 1953 in Heidelberg, Studium in Freiburg im Breisgau, Kirchenmusikdirektor in Leverkusen, Dozent für Orgel in Düsseldorf sowie Leipzig, Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche im Rheinland und seit 1998 am Hamburger Michel, dazu überregional gefragter Konzertorganist, beantwortet das mit einem Sowohl-als-auch. Die von Reger bearbeiteten Toccaten spielt er vorwiegend vom Zentralspieltisch seiner monumentalen Michel-Orgelanlage. Und da klingt es wie ein echter Reger, wenn man von der barocken Harmonik der Vorlage absieht (aber auch die ist zuweilen revolutionär und erhebt sich weit über die Musik seiner Zeit etwa in der Fugenchromatik von BWV 910). Schoener zieht wenn man das mal so platt sagen darf alle Register und fährt die technischen Möglichkeiten voll aus. Da sprühen besonders die virtuosen Läufe und die betriebsamen Fugen voller Lebensfreude und in vollem Saft typisch Regerscher Crescendi und Diminuendi, mit romantischer Espressivität und beseeltem Vortrag, ganz wie Reger sich ausdrückte und es wünschte. Das macht die zuweilen gehäuften Sequenzierungen und gewisse kompositorische Längen vergessen, weil alles, vom kleinsten Pianissimo bis zum kraftstrotzenden Pleno, aufregend und mit viel agogischen Freiheiten gespielt wird: gleichsam Bach als der forsche Oberpfälzer.
Sozusagen das Gegengewicht bilden die beiden Toccaten in e BWV 914 und in G BWV 916, die nicht in Regers Bearbeitung vorliegen. Hier stellt sich Schoener als Arrangeur voll in den Dienst Bachs. Er spielt BWV 914 an der großen Orgel, BWV 916 an der Carl-Philipp-Emanuel-Orgel (II/13), weit weg von Regerscher Klangallmacht, kammermusikalisch mit barocker Spielfreude, filigranen Akkordbrechungen und zierlichen Arabesken. Eine griffige Ergänzung zu Reger-scher Opulenz.
Das ausführliche Beiheft (engl./frz./dt.) verrät viel über die Werke und die Absichten des Bearbeiters, natürlich auch über den Organisten und seine unglaublichen Orgelmöglichkeiten inklusive der Bau- und Umbaugeschichten nebst Dispositionen.
Man kann Christoph Schoener zu dieser Aufnahme und vor allem zur Wahl der Werke in dieser ungewohnten Erscheinungsform nur gratulieren. Neben den unzähligen Einspielungen der großen Toccaten, Praeludien, Fantasien und Fugen war es ein mutiger und nötiger Schritt in ein Terrain, das Ungewohntes und das noch eindringlich und musterhaft erschließt.
Klaus Uwe Ludwig