Hakim, Naji

Ave Maria

Fantasy on a Lied by Franz Schubert für Orgel

Verlag/Label: Schott Music, ED 21686
erschienen in: organ 2014/03 , Seite 62
Einen besonderen Stellenwert im rasant anwachsenden Œuvre Naji Hakims (*1955), der kompositorisch aus den unterschiedlichsten kulturellen, religiösen und ethnischen Quellen schöpft, nehmen seine christlich inspirierten Werke ein. Von Papst Benedikt XVI. wurde dem aus dem Libanon gebürtigen katholischen Christen und unmittelbaren Messiaen-Nachfolger an der Pariser Trinité deshalb im Jahre 2007 die Ehrung „Pro Ecclesia et Pontifice“ zuteil. 
Nun hat Hakim eine neue Orgelparaphrase über das populäre Ave Maria von Franz Schubert vorgelegt. Im Original trägt das Lied den Titel Ellens Gesang III „Hymne an die Jungfrau“, eine Vertonung der deutschen Übersetzung von Walter Scotts romantischem Gedicht Fräu­lein vom See. Für Aufführungen bei Gottesdiensten und Kasualien wird das Lied jedoch zumeist mit dem lateinischen „Ave Maria“-Text unterlegt. 
Hakims Werk ist eine Auftragskomposition des englischen Organisten Anthony Hammond, der es im Oktober 2013 an der Hauptorgel der Kathedrale Notre-Dame de Paris uraufführte. Formal orientiert sich die Fantasie an der Vorlage Schuberts; einem einfachen Strophenlied, das einmal wiederholt wird. Die Parameter Dynamik und Tempo verkehrt Hakim gleich zu Beginn erfrischend in ihr Gegenteil: aus pp wird ff, und gegen Schuberts originale Anweisung „Sehr langsam“ stellt er ein quirliges „Allegro con brio“ voran. In impressionistischer Manier, wie bei Debussy oder im postromantischen französischen Orgelstil oftmals Usus, peitschen sodann brillante Sechzehntelsechs­to­len-Arpeggien, über einem 32’-Orgelpunkt im Pedal, in girlanden­artigem Auf und Ab über die Manuale. Eine dreitaktige Pause im Pedal wird genutzt, um die Regis­trierung für die Melodie vorzubereiten: „Fonds et Anches 4, Chamade 4 (ou Fonds et Anches 8, Chamade 8, en jouant 8va)“. Nun erklingt der ganze Gesang augmentiert, quasi als Cantus firmus im Tenor, der in großen Notenwerten geführt wird. Die ostinaten Begleitfiguren wechseln weiterhin konsequent zwischen den Händen ab; zumeist drei Sechzehnteltriolen links, drei rechts. Somit sind diese effektvoll toccatischen Arabesken technisch auch für den geübteren Laien noch darstellbar. Harmonisch bewegt sich Hakim hier ganz im Kontext des Tonalen, kreiert seinen unverwechselbaren Personalstil aus der Mixtur von ajoutierten Akkorden (inklusive ihrer Permutationen), Quarten- und Quintenakkorden (häufig auch alteriert), bitonalen Strukturen und Pentatonik. 
Nach der Wiederholung steigert sich der gleichmäßige Duktus allmählich sempre più agitato. In der linken Hand etabliert sich in der Folge ein schnell auf- und absteigendes Tonleiterpattern, darüber werden Dur-Septakkorde verschoben, und im Pedal erscheint gleichzeitig eine ausladende Viertelnotenskala. Dieser Abschnitt soll „das Flehen zum Ausdruck bringen“; endlich verschmilzt das Ganze in einem lang ausgehaltenen f-Moll-Septakkord mit hinzugefügter dissonanter None und Undezime. Nach einer Zäsur verändert sich überraschend die Stimmung: Lang ausgehaltene Akkorde, mit Fonds doux 8 sowie Voix célestes, lösen sich zuletzt nach B-Dur auf: „Das Gebet wird erhört!“
 
Jürgen Geiger