Arnstädter Tabulatur
Choralbearbeitungen für Orgel (von Johann Michael Bach, Johann Pachelbel und anonymen Komponisten), hg. von Rüdiger Wilhelm
Die in der Arnstädter Tabulatur enthaltenen Choralbearbeitungen geben einen Einblick in die Vielfalt der Choralbearbeitungstechniken, die in der mitteldeutschen Kulturregion der Zeit zwischen ca. 1660 bis ca. 1730 verbreitet waren: Choralsätze mit und ohne Zwischenspiele, ausfigurierte Choralsätze, Variationen, Fugen mit und ohne vollständig integrierter Choralmelodie sowie Cantus firmus-Bearbeitungen.
Einige dieser Stücke enthalten interessante formale Ideen. Der Choral „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“ von Johann Michael Bach stellt einen Choralsatz mit Zwischenspielen vor, die auf einem zweiten Manual vorzutragen sind. Das anonyme Choralvorspiel „Aus tiefer Not schrei’ ich zu dir“ wird zu Beginn und am Schluss von ouvertüren-ähnlichen Episoden eingerahmt. Die Komposition über „Herr Christ’, der einig’ Gottes Sohn“ von Johann Pachelbel folgt dem wohl von ihm entwickelten Typus einer Choralbearbeitung, in dem ein einleitender Teil aus der Choralmelodie entnommenes Material bearbeitet und dem eine über einem cantus planus im Bass angeordnete zweistimmige Figuration folgt; der cantus planus wird außerdem durch eine Unisono-Verdopplung im Pedal verstärkt. Einige weitere anonyme Choralbearbeitungen stehen in der Tradition dieses Pachelbel-Typus.
Die Satztechnik aller 15 hier vorgelegter Choralbearbeitungen ist handwerklich durchweg solide. Mit Ausnahme des Chorals „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“ und den erwähnten, am Pachelbel-Typus orientierten Kompositionen sind alle Stücke auf einem Manual ohne Pedal auszuführen. Die Editionstechnik Rüdiger Wilhelms ist – wie immer – vorbildlich. Selbstverständlich findet der Benutzer dieser Ausgabe ein informatives Vorwort, einen kritischen Bericht, eine „English Summary“ und einige Faksimile-Reproduktionen.
Der musikalische Wert der Edition ist eher bescheiden: Es handelt sich hier um historische liturgische Gebrauchsmusik ohne irgendwelche Experimente. Nirgendwo ergibt sich der Eindruck, dass die Autoren dieser Kompositionen einen Choral effektvoll und spektakulär inszenieren wollten, so wie wir dies von etlichen prominenteren Orgelmeistern des Barock kennen. Ein Lichtblick in dieser Hinsicht ist die dreistimmige Choralbearbeitung „Von Gott will ich nicht lassen“ von Johann Michael Bach. Insgesamt ist das vorgelegte Repertoire ein interessantes Echo auf die Kompositionskunst Johann Pachelbels und damit ein vorwiegend musikwissenschaftlich informativer Beitrag zur Geschichte des Orgelspiels.
Wolfram Syré