Michel-Ostertun, Christiane

Arbeitsblätter zur Orgel­improvisation

Band 1: Barock / Band 2: Klassik

Verlag/Label: Strube Edition 3345 / 3375
erschienen in: organ 2012/03 , Seite 58

Wer es genau wissen will, findet in den Arbeitsblättern zur Orgelimprovisation von Christiane Michel-Ostertun eine ausführliche Handreichung zur Erarbeitung barocker Formen (Band 1) und auch zu den erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten im Stil der Wiener Klassik (Band 2). Mit der allseits bekannten Gründlichkeit, die uns schon in ihrem Buch Grundlagen der Orgelimprovisation. Harmonisieren von Chorälen in verschiedenen historischen Stilen (Strube 9054) begegnet ist, legt die erfahrene Pädagogin und Autorin nun nach. Die beiden 2011 vorgelegten Ringhefte sind Sammlungen von Arbeitsblättern, die sich in Michel-Ostertuns Unterricht an den kirchlichen Hochschulen in Herford und Heidelberg, an denen sie seit 1988 Liturgisches Orgelspiel und Improvisation lehrt, bewährt haben, und bieten auf diese Weise aufschlussreiche Einblicke in ihre Arbeitsweise im Unterricht mit Kirchenmusikstudierenden.
Ein wenig bedauerlich ist, dass sich einerseits Band 1 (Barock) nicht von der Abhängigkeit vom Cantus firmus (protestantische Sklaverei?!) befreien kann, indem alle vorgestellten Formen und Modelle auf die Anwendung auf Kirchenliedmelodien zielen (immerhin genau so viele aus dem Gotteslob wie aus dem Evangelischen Gesangbuch, insofern trotz der unbestreitbaren evangelischen Herkunft konfessionell ausgeglichen in der Heranziehung der Gesangbuchlieder), andererseits solche Anwendungsmöglichkeiten in Band 2 (Klassik) fast vollständig fehlen (außer – sehr nahe liegend – in der Besprechung der Variationssätze).
Auch ist es ein wenig schade, dass die sehr gut nachvollziehbaren und hilfreichen pädagogischen Ansätze in den Anfangsgründen (z. B. zur Entfaltung figurierter Quintfallsequenzen in Band 1) sich in komplexeren Zusammenhängen so nicht fortsetzen, stattdessen werden später fast nur noch Notenbeispiele „barocker Kleinmeister“ bis hin zu Buxtehude und Bach mit wenigen Kommentaren als Anregung zur Improvisation aneinandergereiht.
Trotzdem: Wie es von der überaus kompetenten und angesehenen Pädagogin zu erwarten war, handelt es sich hier um eine der besten Veröffentlichungen auf dem Gebiet des Liturgischen Orgelspiels. Die Ringbücher sind klar gegliedert, gut lesbar, anregend, verständlich und können vielen sehr hilfreich als Ergänzung zum Unterricht, für Selbst- und Weiterstudium sein.
Aber warum sollen wir das Niveau der „großen“ Meister nie erreichen, wie die Autorin im Vorwort schreibt? Müssen wir für immer im Mittelmaß gefangen bleiben? Im Gegenteil: Für mich ist es unabdingbar, dass sich jede(r) in jeglicher kirchenmusikalischer Tätigkeit, gerade auch im Gottesdienst, glaubwürdig authentisch und mu­sikalisch vollgültig auszudrücken sucht, auch wenn es sich wie hier um Stilkopien, die möglicherweise am Anfang einer künstlerischen Entfaltung stehen, handelt.
Ich freue mich jedenfalls schon auf das Erscheinen weiterer Bände zu weiteren Epochen, die für das gottesdienstliche Orgelspiel relevant sind, und bin gespannt auf neue pädagogische Ansätze in neueren Stilrichtungen.

Torsten Laux