Hakim, Naji
Amazing Grace Ausgabe für Orgel solo
Ausgabe für Orgel solo / Ausgabe für Sopran und Orgel
Naji Hakim ist als Organist wie als Komponist bekanntlich zu jeder Zeit für geistreiche und kreative Überraschungen gut. So hat der 1955 in Beirut geborene frankophone Musiker in der Vergangenheit bereits eine Fülle von stilistisch unkonventionell-nonkonformistischen Kompositionen in fast allen musikalischen Gattungen und Besetzungen (mit Ausnahme der Oper) vorgelegt, darunter so kontrastreich Buntes für die Orgel wie etwa Tangos, Tanz-Toccaten, Gershwinesca (Schott), Rubaiat (UMP), Ouverture Libanaise (Leduc), Aalaiki ssalaam (Schott), Cosmogonie (unveröff.), The Embrace of Fire (Combre), Hommage à Igor Stravinsky (Leduc), Quatre Études-caprices für Pedal solo (Leduc), Ich liebe die farbenreiche Welt (Schott)
Der letztgenannte Selbstkommentar des Komponisten könnte als persönliches Motto genauso gut über dem gesamten, überaus polychromen Orgelschaffen Hakims stehen. Sein farben- und gestenreicher Orgelstil, der markante Tanzrhythmik favorisiert und ebenso auf effektvolle Takt- und überraschende Tempowechsel baut, zeichnet sich für gewöhnlich durch einen extrovertierten, hoch expressiven und nicht zu vergessen: zumeist hypervirtuosen stilistischen Facettenreichtum aus, der in seiner pittoresken Detailverliebtheit zuweilen patchwork-ähnliche Züge annimmt.
Hakim wäre allerdings auch nicht Hakim, wäre er nicht ebenso für Überraschungen in die umgekehrte Richtung gut. Eines seiner aktuellen Nova für die Orgel, Amazing Grace Variations on an English Hymn (komponiert 2009), macht nämlich mit einem gänzlich anderen, fast melancholisch zu nennenden Hakim bekannt: einem Meister auch der feineren und leisen (Zwischen-)Töne. Das Stück ist beim Mainzer Musikverlag Schott erschienen, der sich dieses bemerkenswerten Komponisten verdientermaßen
und auf zugleich verdienstvolle Weise editorisch angenommen hat. Und als wolle Hakim den lyrischen Charakter, der überwiegend im pp-mp-Bereich angesiedelten und über ein verhaltenes, kurzzeitiges mf-f kaum hinaus gelangenden Partitur zusätzlich unterstreichen, hat er der Orgelfassung gleich eine zweite Version für Sopran und Orgel hinzugefügt (wobei der strophisch pausierende Sopran den Orgel-Cantus firmus hier meist verdoppelt).
Die Musik Hakims lebt freilich ganz aus der melancholischen Schönheit des traditionellen englischen Songs New Britain mit seiner pentatonischen Melodik, dem ein religiöser Text des englischen Dichters John Newton (1725-1807) zugrunde liegt. Dem polyglott gesinnten Weltchristen Hakim dürfte insbesondere die spannende Bekehrungsgeschichte Newtons als ein hintergründiges Sujet dieser Variationen der Humanität gereizt haben: Dieser war als brutaler Sklavenhändler tätig gewesen, wurde aber gegen Ende seines Lebens zum Christentum bekehrt und kämpfte dann als Prediger der Armen und Entrechteten in der englischen Kirche gegen Sklavenhandel und Unterdrückung.
Der Komponist rechnet mit einer dreimanualigen Orgel französisch-symphonischen Typs (obligatorisch mit Schweller und Schwebung!). Dank der überwiegend ruhigen Tempi, einer klaren Satzfaktur und durchweg sehr guter Lesbarkeit des Notentextes lassen sich diese aparten Hakim-Variationen en miniature erfreulicherweise auch von geübteren Laien mit einem übersichtlichen Übeaufwand gut bewältigen. Die Komposition endet atmosphärisch, wie sie beginnt: beschaulich, im Pianissimo auf den Fonds doux 8 und den Voix célestes im Récit expressif.
Wolfram Adolph