Forrest Kelly, Thomas

Alte Musik

Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2014, 182 Seiten, 8 Euro
erschienen in: organ 2015/01 , Seite 62
Die Erwartungen sind hoch, wenn ein renommierter Verlag wie Reclam mit einem ausgewiesenen Autor (Harvard-Professor) ein „Sachbuch“ über ein so vielschichtiges Thema wie Alte Musik herausbringt – und zwar im Jahr 2014, rund fünfzig Jahre nach Beginn des modernen Booms auf diesem Gebiet. Was für eine Chance zur Darstellung der aktuellen Fragestellungen und Probleme, der fruchtbaren Spannung zwischen der höchst lebendigen Forschung und den stark gewachsenen künstlerischen Freiräumen der jungen Generation von Ausführenden!
Der Verlag hat sich dafür entschieden, ein amerikanisches Buch von 2010 übersetzen zu lassen. Die Themen erstrecken sich vom Mittelalter bis zum Barock (ein Kapitel zur Klassik ist leider nicht vorgesehen), die Inhalte von Gattungs- und Formenlehre bis zur Entwicklungsgeschichte der Alte-Musik-Bewegung: „a very short introduction“, wie der Untertitel der englischen Ausgabe lautet. Der Text verzichtet auf Fußnoten und schränkt erstaunlicherweise die angeführten Quellen auf das 18. Jahrhundert ein und auch da auf die seit 50 Jahren immer wieder zitierte Trias Quantz, Leopold Mozart und Carl Philipp Emanuel Bach, als gäbe es vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert keine Quellen. Die Literaturangaben nennen ausnahmslos englischsprachige Publikationen. Es ist verwunderlich, dass für den deutschsprachigen Markt nicht der Versuch einer Anpassung unternommen worden ist.
Schwerer wiegt, dass der Autor bei diversen Themen ein wenig an der Oberfläche bleibt und auch nicht immer den Stand der Entwicklung von heute repräsentiert. Dass z. B. der „rhetorische“ Vortrag ein zent­rales Unterscheidungsmerkmal der „Alten Musik“ gegenüber der romantischen Tradition ist, weiß man schon – das rhetorische Prinzip auf die „Rhetorik der Opernhäuser“ zu reduzieren, greift zu kurz. Es ist heute auch nicht mehr möglich, die Rolle der Improvisation in der Alten Musik nur anhand von notierten Lehr-Beispielen im Kapitel über Renaissancemusik zu behandeln: Es gibt mehr und mehr wunderbare Improvisatoren, es gibt praxisorientierte Theoretiker und Wissenschaftler, und es gibt allenthalben die Erkenntnis, dass für die Einsicht in den Kompositionsprozess, für die musikalische Analyse, für die Aufführung und für die Ausbildung in Historischer Musikpraxis heute die Improvisation vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ein absolut zent­raler Aspekt ist, weit mehr als nur Diminutionen oder Verzierungen.
Für die Übersetzung aus dem Amerikanischen wäre ein sorgfältigerer Umgang mit der musikalischen Fachterminologie wünschenswert gewesen. So bedeutet „Chant“ im Zusammenhang mit instrumentalen Bearbeitungen des 15. Jahrhunderts nicht „Gesang“, sondern (Gregorianischer) Choral, „Pane lingua“ (sic!) ist keine Hymne, sondern ein Hymnus, ein „stegloses Griffbrett“ ist wohl eines ohne Bünde, und Formulierungen wie „ursprüngliche Stimmlinie“ sind befremdlich.
Summa summarum: Unglück­liche Entscheidungen des Verlags führen dazu, dass die Erwartungen an ein neues Buch über Alte Musik für den deutschsprachigen Raum enttäuscht werden.
 
Peter Reidemeister