Alte Meister in Bearbeitung durch Karl Straube

Werke von J. S. Bach, Buxtehude, Kerll, Muffat, Pachelbel, Strungk und Walther

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm, MDG 1740-6 (2012)
erschienen in: organ 2013/02 , Seite 53

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Da hat man vor Jahren die Bände von Karl Straubes Alte Meister des Orgelspiels „ausrangiert“ oder (bestenfalls) aus nostalgischen Erwägungen heraus an einen befreundeten Kollegen in der damaligen DDR weitergereicht – alles im stolzen Bewusstsein, dass sie editionstechnisch ebenso unmöglich wie als praktische Ausgaben vollends überholt seien –, da taucht auf dem reichlich übersättigten Fonomarkt mit einem Mal eine solche CD auf: Die Orgel ist imposant, der Spieler souverän und (oh Schreck!) es klingt auch noch wunderbar – so ganz anders als wir es mittlerweile gewohnt sind, in permanentem Verstoß gegen die so gründlich erforschten „Spielregeln“.
Fast wird man neidisch, sowohl auf die Orgel und ihren glücklichen „Besitzer“ Andreas Sieling als auch auf Straube in der ersten Blüte seiner Leipziger Jahre: Egal, ob es sich um die (dieser Aufnahme zugrunde liegenden) Alten Meister aus dem Jahr 1904 oder um die von 1918 handelt (mit denen Straube sich an die Spitze der damals noch jungen Orgelbewegung setzte) – Straube blieb in seinem Selbstverständnis als Interpret derselbe. Der Komponist hatte das Rohmaterial geliefert, der Spieler aber erweckte es erst zum Leben. „Für den praktischen Gebrauch bearbeitet“ und mit viel Raffinesse für die damals wohlfeilen Großorgeln umgestaltet – Orgeln, von denen nur allzu wenige bis heute überlebt haben –, war der Spieler quasi Dolmetscher und Vermittler einer Musik, die seiner Zeit zunächst fremd war. Indem er sie dem Geschmack dieser Zeit anpasste, machte er sie überhaupt erst interessant und akzeptabel.
So lernen wir die vorbachischen Ahnherren in ganz neuem Gewand kennen. Am Beispiel von Muffats Passacaglia in g: Sämtliche Wiederholungen sind gestrichen, die fluktuierende Dynamik steht in enger Verbindung mit ebenfalls fluktuierender Agogik (die Variationen 8-11 werden deutlich schneller gespielt!); Manualwechsel, Schwellwerk und vor allem die Walze inszenieren die Übergänge vom Pianissimo bis zum Tutti.
Dass Straube es in den 1920er Jahren „richtiger“ machte, werden wir heute nicht mehr unterschreiben, dass seine frühere Deutung „reizvoll“ war (oder wie er selbstbewusst meinte: „schöner“), ist doch erwägenswert. Sielings Einspielung bietet folglich weit mehr als ein Kuriosum. Sie zwingt uns, neu hinzuhören, und lockt, vielleicht selber anders als bislang – vielleicht sogar „schöner“ (?!) – zu spielen. Straubes Bearbeitungen sind gewiss kein Repertoire für alle Tage, aber sicher mehr als lediglich ein gelungenes interpretationsgeschichtliches Experiment auf der Orgel.

Martin Weyer