Anselm Hüttenbrenner
72 Praeludien für Klavier oder Orgel
hg. von Michael Aschauer
Anselm Hüttenbrenner (1794–1868) erhielt bereits früh Klavier- und Orgelunterricht, ab 1815 studierte er bei Antonio Salieri in Wien Gesang und Komposition. Bei diesem lernte er Schubert kennen und auch Beethoven. In Graz wirkte er von 1821 bis 1852 als Musikkritiker und Leiter des Steiermärkischen Musikvereins, bis er sich vom Musikleben allmählich zurückzog.
Zu Hüttenbrenners umfangreichem Œuvre gehören u. a. 27 geistliche Werke (darunter sechs Messen), vier Opern, 258 Lieder, 292 Männerquartette und -chöre, Orchester- und Kammermusik sowie 83 Werke für Klavier zu zwei und vier Händen. Seit einigen Jahren legt Michael Aschauer die Klavierwerke, die in der Bibliothek der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz verwahrt werden, in Erstausgaben vor.
Die 72 Präludien entstanden 1827, im Titel sind sie ursprünglich bezeichnet als „Orgelstücke während der Wandlung zu spielen“. Es handelt sich um kurze, manchmal nur acht Takte umfassende Preziosen, die jeweils eine musikalische Idee anspielen, die dann weitergesponnen werden kann. Die Praeludien bewegen sich von choralartiger Schwere bis hin zu kleinen Virtuosenstückchen, geprägt von kontrapunktischen Praktiken wie von der Wiener Klassik und eigener vielfältiger Stilistik, die gelesen und geübt werden wollen, zumal Tonarten wie Des-Dur und Fis-Dur nicht verschmäht werden. So sind sie vor
allem für den Unterricht geeignet, wo Spielkunst und Improvisation gezielt geübt werden können.
Ganz anders verbergen die 24 Fugen natürlich nicht ihr durch Bachs Wohltemperiertes Klavier geprägtes Vorbild, das immer Ideal der Fugenkomposition blieb. Davon zeugen u. a. das Wohltemperierte Klavier von Bernhard Christian Weber (ca. 1750, für die Orgel), die extravaganten experimentellen 36 Fugen von Antonin Rejcha (1805, op. 36), natürlich Mendelssohns artifizielle Praeludien und Fugen (1837, op. 35), Schumanns B-A-C-H-Fugen (1845, op. 60) und kurz nach Hüttenbrenners Fugen noch Die wohltemperierte Orgel von Heinrich Wilhelm Stolze (1862, op. 58).
Anselm Hüttenbrenner befasste sich seit 1850 intensiv mit Bach. 1851 schuf er mit seinem Zyklus ein abwechslungsreiches Werk im Stil der Zeit, oftmals gekennzeichnet durch mitreißende Brillanz, die ihm ja auch als bravourösem Pianisten eigen war. Einige Fugen fußen auf bekannten Opernthemen – Hüttenbrenner verstand seine Fugen also nicht als kirchliche Kunst. Etliche Male verwendet er im Laufe einer Fuge kürzer werdende Notenwerte, so dass der zu Beginn streng wirkende Charakter sich zu einem voller virtuoser Spiellust wandelt. Spricht auch der geforderte Tastenumfang meist für das Klavier, so sind sie doch gut übertragbar auf die Orgel. Auch zeigen Orgelpunkte im Bass auf, dass etliche Fugen auf der Orgel besser aufgehoben sind, wobei sich kammermusikalische Instrumente auf 4’-Basis eher empfehlen als große symphonische. Die Fugen begeistern durch ihre vielfältige musikalische romantische wie kontrapunktische Qualität, sind daher auch sehr für Orgelkonzerte zu empfehlen.
Die Ausgabe bietet einen übersichtlichen Notentext sowie ein ausführliches Vorwort und einen detaillierten Revisionsbericht (dt./engl.).
Rainer Goede