Orgelmusik in Zeiten von Corona

17 neue Kompositionen für Orgel solo, hg. vom Deutschen Musikrat unter Mitarbeit von Richard Mailänder und Kord Michaelis

Verlag/Label: Carus 18.220
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/01 , Seite 58

Gerade in Zeiten von Krankheit, Not und Bedrängnis kommt der Kirche eine wichtige vermittelnde Bedeutung zu, die sich sicher auch in der kirchlichen Musik widerspiegeln muss. So gemahnt Joseph Haydens Missa in tempore belli an Napoléon Bonaparte, der auf Wien marschiert. Im Agnus Dei treffen die Paukenwirbel der Aggressoren und die Bitte um Frieden aufeinander. „In Zeiten von Corona“ setzen der Deutsche Musikrat, die Deutschen Bischofskonferenz und die Evangelischen Kirche in Deutschland auf Orgelmusik. Sie vergeben 17 Auftragskompositionen, die als künstlerische (und durchaus nicht nur religiöse) Zeugnisse und Reflexionen der Pandemie-Zeit verstanden werden sollen. „In ihnen spiegeln sich verschiedene Emotionen und Assoziationen, Visionen und Wünsche in Verbindung mit der Pandemie-Erfahrung“, so Monika Grütters, ehemalige Staatsministerin für Kultur und Medien.
Der vorliegende Band ist in Zeiten von Corona entstanden, Zeiten, in der kulturelle Aktivitäten brach lagen, Organisten teilweise nicht einmal zum Üben an ihre Orgeln durften. Er soll dazu beitragen, so Grütters, „die durch die Folgen der Pandemie gefährdete Vielfalt des Musiklebens in Deutschland zu erhalten“. Mitten in dieser Zeit der Pandemie war die Orgel aber auch das „Instrument des Jahres 2021“. Als solches waren ihr umfangreiche Programme gewidmet, die sie in den Mittelpunkt gestellt haben – Aktionen in einem Umfang, den sich andere „In­strumente des Jahres“ wohl sehnlichst gewünscht hätten. Der Wunsch eines Kirchenmusikstudenten im Trailer zu den vielfältigen klingenden Aktionen, die sich rund um diese Edition gruppieren, die Orgel möge „aus ihrem Schattendasein immer ein bisschen mehr herauskommen“, scheint so gesehen eine grobe Fehleinschätzung zu sein.
Orgelmusik in Zeiten von Corona ist eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, der eigenen (religiösen) Lebensphilosophie, mit der Welt und ihren Krisen geworden, die durchaus unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Aufträge für die Kompositionen sind ohne weitere Ausschreibungen von den Herausgebern gleichermaßen an arrivierte wie unbekannte Komponistinnen und Komponisten vergeben worden. Im Hintergrund stand sicher auch, kirchenfernere Komponist:innen mit einzubinden, um auch das Instrument Orgel außerhalb des Kirchenraums mit im Blick zu haben. Andererseits ist und bleibt die Orgel das Instrument der Kirche – der bei weitem größte Teil der in Deutschland vorhandenen etwa 50000 Orgeln steht in Kirchen.
Die Titel der Werke liegen tatsächlich oft in einem (vielleicht auch unkirchlichen / unreligiösen) Glaubensbereich, von Trauer (Roland Kunz: Welt, ich muss dich lassen. Passacaglia … de lumina) über Glaubensgewissheit (Timo Böcking: Er wird’s wohl machen, Choralfantasie über „Befiehl du deine Wege“) bis hin zum Dank (Johannes Matthias Michel: Fantasie über den Choral „Nun danket alle Gott“) und der Einbindung in die liturgische Form der kirchlichen Ewigkeit (Dominik Susteck: Orgelmesse). Interessant ist auch die Kombination aus Choralbezogenheit („Von Gott will ich nicht lassen“) und einem erotisch konnotierten Tanz (Tango) in dem Werk von Eckhart Kuper. Ein kleinerer Teil der Beiträge setzt sich aus eher weltlicher Sichtweise mit dem Thema Corona auseinander (etwa Dorothée Hahne: Gestern – Heute – Morgen, oder Maximilian Walllrath: Fantasia Corona).
Insgesamt ist eine Bestandsaufnahme zeitgenössischer Orgelmusik herausgekommen, die eine große Breite an musikalisch Möglichem darstellt, aber bei weitem nicht an die Grenzen des derzeit musikalisch wie technisch Denkbaren geht. Als György Ligeti 1961 von Hans Otte für Radio Bremen einen Kompositionsauftrag bekam, bei dem er „die Möglichkeiten der Orgel neu durchdenken“ sollte, war er stilistisch und musikalisch wesentlich weiter! Die Notation der Werke ist fast durchgängig traditionell. Der Schwierigkeitsgrad ist – ab einem mittleren Level – sehr unterschiedlich.
Alle Stücke sind mittlerweile von Kirchenmusikstudenten aus Leipzig und Regensburg eingespielt und auf YouTube verfügbar. Die Titel haben eine Länge von vier bis zehn Minuten und benötigen eine zwei- bis dreimanualige Orgel. Selbstverständlich muss man immer wieder auf den emotionalen Ersteindruck der Hörer zählen und vertrauen. In der gottesdienstlichen Verwendung werden die Stücke möglicherweise einer guten Einführung bedürfen. Dazu sind jeder Komposition kurze erläuternde Worte der Komponist:­innen mitgegeben. – Jüngst sind alle 17 Beiträge als Einzelausgaben erschienen.

Ralf-Thomas Lindner

Siehe auch die Website www.orgel-corona.de/kompositionen