Haas, Joseph

40 Choralfughetten für Orgel

hg. von Gerhard Weinberger

Verlag/Label: Schott Music, ED 22406
erschienen in: organ 2016/01 , Seite 61

Wer die großen Werke von Joseph Haas (1879–1960) kennt, etwa die pa­ckende Sonate A-Dur op. 25 oder die geistreichen Variationen über ein Originalthema op. 31, weiß, zu welch fantasievollen Höhenflügen der begabte Schüler Max Regers fähig war. Davon ist allerdings in seinen kleinen Choralbearbeitungen wenig zu hören. Klein sind sie – manche begnügen sich mit acht bis zehn Takten, und die schwingen sich dann gelegentlich unversehens und unverhältnismäßig bis zum Organo pleno auf. Dabei nimmt sich Haas oft nur der ersten Choralzeile an, um sie mit pachelbelscher Architektur zu einem dynamisch-gigantischen Gebäude aufzutürmen.
Vereinzelt zeigt sich trotz hartnäckig fugierter Struktur auch eine harmonisch zutiefst empfundene Ausarbeitung, so etwa bei „Herzliebster Jesu“. Haas scheint häufig viel zu versprechen, biegt aber plötzlich und unversehens in eine allzu gängige Kadenz IV–V–I ab (zugegeben, mit einem zeittypisch verminderten Septakkord dazwischen) – als wäre das Stückchen damit abgeschnitten. Auch „Wunderbarer König“ lässt sich spannend an, hätte Haas seine initialen Einfälle nur wei­tergeführt. Und wie gesagt – wir wissen, dass er es konnte! Anscheinend wollte er hier nicht. „Nun danket alle Gott“ versieht er dafür mit grifftechnischen Herausforderungen in Terzen- und Sextenpa­rallelen.
Diese Choralfughetten sind in Haas’ Werkverzeichnis nicht auf­geführt, wohl aber in schönster Reinschrift verfasst. Ganz gleichgültig schien dem Komponisten die Sammlung nicht zu sein, die vermutlich 1905/06 entstanden ist. Allerdings: Ein Vergleich mit den 1900/02 entstandenen Zweiundfünfzig leicht ausführbaren Vorspielen op. 67 seines Lehrers Max Reger verbietet sich a priori. Dazu sind die beiden Sammlungen qualitativ einfach zu unterschiedlich.
Die Ausgabe erscheint im Hochformat, geheftet, und ist sehr großzügig gedruckt. Keine Seite hat mehr als drei Akkoladen, wenn das Pedal beteiligt ist (einige Manua­liter-Stücke gruppieren sich da­zwischen). Mitunter werden vier Akkoladen auf zwei Seiten verteilt, zuweilen bekommt eine Seite nur noch die letzte, die vierte Akkolade einer Fughette. Spart man sonst gern an Papier, weil Notendruck so teuer ist, hier wurde schier geaast. Oft ist eine Seite halb-, ja auch dreiviertel leer. Rätselhafte weiße Landschaften, allerdings nichts zum erkenntnisfördernden Erforschen …!
Noch rätselhafter, leider eben für den praktischen Gebrauch hinderlicher: Die Fughetten stellen wirklich kaum konzertante Stücke dar. Nein, man würde sie gern – als Beispiel leichter spätromantischer Literatur (obwohl manche Werklein fast als mager gelungene Kontrapunktarbeiten erscheinen) – im liturgischen Zusammenhang verwenden. Die Chance ist leider vertan: Die Tonarten folgen getreu dem Original – und da war das selige EKG (Evangelische Kirchengesangbuch von 1950 ff.) schon teilweise tiefer, geschweige denn sein Nachfolger (EG) – und das alles aus dem Stegreif vom Blatt zu transponieren, dürfte auch den eingefuchsteren unter denjenigen liturgischen Tastenkünstlern, die mit Vorliebe überhaupt zu solch leicht ausführbarer Literatur greifen, nicht eben leicht fallen.

Klaus Uwe Ludwig