Behrends, Albert

12 kleine Choralfantasien im alten Stil zu Luther-Chorälen

Verlag/Label: Daniel Kunert KDL-0412-01
erschienen in: organ 2012/03 , Seite 60

Warum immer ausschließlich his­to­rische Musik auf historischen Orgeln spielen? Die wertvollen „alten“ Orgeln an der Niederelbe, mit denen der frühere Stader Kirchenmusikdirektor Albert Behrends – als solcher Organist an der großen Erasmus-Bielfeldt-Orgel von 1736 in St. Wilhaldi zu Stade – tagtäglich beruflich zu tun hatte, inspirierten ihn zu kreativen Eigenschöpfungen, die sich durchaus hörbar zwar lose an einigen Prinzipien des norddeutschen Orgelbarock orientieren, aber dennoch authentische Klänge unserer Zeit erschließen.
Ursprünglich waren die vorliegenden 12 kleinen Choralfantasien im alten Stil den zehn Denkmal­orgeln des „Alten Landes“ in der Elbmarsch südlich von Hamburg vom Komponisten quasi auf den Leib geschneidert worden. Sie berücksichtigen folglich manche spielpraktische Besonderheit historischer Orgeln und sind somit auch auf den einschlägigen Barockinstrumenten, die in der Regel einen eingeschränkten Ambitus der Klaviaturen oder alte Stimmungen aufweisen, besonders überzeugend und „authentisch“ umsetzbar. Selbstverständlich sind alle zwölf Stücke „im alten Stil“ auch an einer neueren bzw. zeitgenössischen (mechanischen) Orgel problemlos spielbar, und die kraftvoll-barocke rhetorische Gestik mit Aneinanderreihung überraschender Einfälle im Sinne des so genannten „Stylus fantasticus“, und andererseits sehr dicht gearbeiteter imitatorischer Satzweise, verbindet sich sehr glücklich und unaufdringlich mit geschickt eingesetzten zeitgenössischen Verfremdungstechniken. Insofern müsste im Werktitel der vorliegenden Sammlung die Präzissierung „im alten Stil“ zutreffenderweise eigentlich in Anführungszeichen stehen.
Nur im letzten Stück über Luthers 1524 entstandenen deutschen Nachdichtung des altkirchlichen Pfingsthymus Veni Creator Spiritus (Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist) bleibt Behrends der diatonischen Harmonik des Barock konsequent verhaftet (schade eigentlich, denn diese gewaltige Pfingstmelodie könnte doch ein unverzagterer und mutigerer Geist durchwehen …), alle anderen Choralbearbeitungen experimentieren stattdessen mit moderneren klanglichen Strukturen wie Parallelführungen und Überlagerungen von Intervallen und Dreiklängen (bis hin zur Entfaltung von motivisch aufgebauten Clustern), Ostinato-Figuren u.v.a.m.
Nichtsdestotrotz ist der klare Wille erkennbar, die für die protes­tantische Orgeltradition – zumal im ehedem hanseatischen Kulturraum – barocke Choralfantasie hinsichtlich ihrer formaler Disposition bis hin zu einigen typischen Details neu zu interpretieren; einige „Patterns“ finden sich hier geschickt adaptiert und verfremdet wieder und laden Spieler wie Hörer zudem zum direkten Vergleich mit den entsprechenden Originalwerken Buxtehudes, Scheidemanns, Tunders und ihrer Zunftgenossen ein.
Luther hat insgesamt 36 geistliche Lieder gedichtet und auch vertont, von denen immerhin noch 29 heute noch „offiziell“ in den Gliedkirchen der EKD in Gebrauch und geläufig sind. Es ist nicht zuletzt begrüßenswert, dass Luthers bedeutendes geistliches Liedschaffen auf diese Weise auch für die gottesdienstliche Orgelpraxis fokussiert und erneut fruchtbar gemacht wird – passend zum aktuell gegebenen Anlass des Musikjahrs 2012 „Reformation und Musik“ innerhalb der Lutherdekade 2017 (und insofern sicherlich zu Recht unterstützt von der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover).
Die zwölf Choralfantasien sind durchweg stringent und effektvoll komponiert: Hier geht jemand zu Werk, der die Möglichkeiten einer historischen Orgel – mit überschaubarem technischen Aufwand – gekonnt zu nutzen und in Szene zu setzen weiß. Auch das übersichtlich gestaltete Notenbild trägt dazu bei, dass der Leseaufwand in einem komfortablen Verhältnis zum musikalischen Ergebnis steht.

Wolfram Adolph / Torsten Laux