Camonin, Pierre (1903–2003)

Œuvres pour Orgue

Improvisation pour un onze Novembre etc.

Verlag/Label: 2 CDs, Bayard Musique 308511.2 (2017)
erschienen in: organ 2017/03 , Seite 47

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Diese historische Aufnahme mit dem langjährigen Titularorganisten der Basilique-Cathédrale Notre-Dame zu Verdun entstand in den Jahren 1969/70 und ist ein einzigartiges Tondokument des völlig zu Unrecht vergessenen „Prêtre-Organiste“. Pierre Camonin wurde 1903 in Bar-le-Duc (Maas) geboren und studierte zuerst Klavier und Theorie am Pariser Conservatoire, bevor er 1920 Schüler sowohl von Marcel Dupré als auch von Louis Vierne wurde. Vierne verehrte er besonders und besuchte ihn bzw. assistierte ihm regelmäßig an dessen Orgel in Notre-Dame-de-Paris; von ihm erhielt er wertvolle Anregungen hinsichtlich seiner ersten Kompositionen. Im selben Zeitraum trat Camonin dem Couvent des Carmes in Paris bei und studierte Theologie. 1928 schloss er seine Studien ab (titulaire d’une license en théologie), wurde zum Priester geweiht, um 1929 in seine Heimatregion zurückzukehren, wo er sechs Jahre als Vikar in Ligny-en-Barrois verbrachte, bis er 1935 als Nachfolger von Ernest Grosjean Titularorganist der Kathedrale von Verdun mit der im selben Jahr erbauten Orgel (61/IV/Ped) aus dem Hause Jaquot-Lavergne (Vogesen) wurde. Camonin versah diesen Organis­tenposten bis zu seinem Tod im Jahr 2003. Seit 1995 wirkt dort auch, zunächst als sein Co-Titulaire Vincent Warnier, zugleich Organiste-Titulaire an Saint-Étienne-du-Mont in Paris.
Die erste CD beginnt düster-heroisch und zugleich triumphal mit einer vierteiligen Improvisation pour un once Novembre, 1963 vom französischen Rundfunk aus Anlass des fünfzigjährigen Gedenkens an die Schlacht von Verdun aufgezeichnet. Der 11. November ist in Frankreich ein Feiertag, der an den Waffenstillstand von 1918 und an die Toten des („großen“) I. Weltkriegs erinnert.
Camonin hat 1969 anlässlich eines Concours der Bläser des 151. Infanterieregiments das Werk neu konzipiert, wohl auch notiert und den ersten und letzten Teil durch Hinzufügung einer Trompetenpartie ergänzt. Unter dem Titel Mort et Resurrection mit dem Titelbild der Ossuaire de Douaumont, das auch das Cover dieses Doppel-CD-Albums ziert, ist die Platte 1969 erschienen. Auf der Aufnahme findet sich noch eine eindrucksvoll programmatische Rhapsodie pascale über österliche gregorianische Themen und fünf ganz fantastische und virtuos-brillante Variationen über das Volkslied Le chants des Adieux, das auch unter dem Titel Ce n’est qu’un au-revoir als französisches Volkslied schottischen Ursprungs geläufig ist. Es folgen eine intime, teils an die frühen Werke Tournemires erinnernde Fantaisie und ein mitreißendes Carillon über das Geläut der Kirche St-Jean in Camonins Heimatstadt Bar-le-Duc. Die kunstvolle Verarbeitung der Themen in den letzten vier Stücken kündet von größter Meis­terschaft ihres Autors und bezeugt einen wahren Orgelsymphoniker im Geiste des großen Lehrmeisters Louis Vierne.
Die zweite CD wurde 1970 aufgenommen und beginnt mit der fünfsätzigen, höchst exquisiten Messe mariale, die teilweise auf Marien­lieder oder gregorianischen marianischen Themen beruht. Teils kammermusikalisch, filigran, liedhaft, dann wieder virtuos und keck, stark an den elaborierten Stil der 24 Pièces en style libre von Vierne gemahnend, hinterlässt die Messe beim Hörer einen tiefen Eindruck, genauso wie die kleinen Pretiosen der nachfolgenden Huit Variations sur le Noël lorrain – Minuit sonne au clocher blanc mit ihren programmmusikartigen symbolhaft-assoziativen Überschriften. Ein virtuoses Finale, im Stil von Viernes Naïades beginnend, in der Entwicklung ein faszinierendes, großangelegtes Scherzo (Allegro vivace), beschließt die Aufnahme, die technisch zeitbedingt natürlich anders klingt als eine moderne digitale Produktion.
Auch die postromantische elektropneumatische Orgel, eigentlich ein sehr eindrucksvolles 32’-Instrument mit wunderbaren Farben und ungeheurer Kraft im Tutti, stellt einen Typus dar, der über lange Jahre bei Puristen verpönt war. Die Orgel reagiert in virtuosen, voll regis­trierten Passagen manchmal etwas ungenau, was aber dem Charme dieser Aufnahme insgesamt keinen Abbruch tut. Das Booklet bringt in französischer Sprache informative, authentische Kommentare zu Musik, Person und Instrument.
Insgesamt eine wichtige Entde­ckung grandioser orgelsymphonischer Meisterwerke in Stil des jungen und mittleren Vierne von allerhöchstem Repertoirewert! Auf der Orgeltribüne von Notre-Dame-de-Paris sagte Louis Vierne einst zu dem jungen Pierre Camonin, als er seinem Maître die ersten Kompositionen zeigte: „Wenn einer so begabt ist [wie Sie], mein kleiner Abbé, dann wäre es ein Verbrechen, wenn man nicht weiter machte …“ Gott sei Dank hat Pierre Camonin „weiter gemacht“ – wir, die Nachwelt, danken es ihm besonders!

Stefan Kagl