„Transprovisations“

Werke von Charles Tourne­mire, Louis Vierne, Marcel Dupré, J. S. Bach, Jean Guillou, Pierre Chochereau und Olivier Latry

Verlag/Label: BNL 112974 (2014)
erschienen in: organ 2014/04 , Seite 57

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Unter dem Titel "Transprovisations" (ein Neologismus, der die Begriffe „Improvisation“ und „Transkription“ verschmilzt) stellt die junge koreanische Organistin Shin-Young Lee auf ihrer neuen CD Orgelmusik französischer Provenienz vom 19. bis zum 21. Jahrhundert vor. Die ausgezeichnete Sandtner/Rieger-Orgel der Münchener Jesuitenkirche St. Michael ist – in Verbindung mit der jederzeit transparenten Kathedralkustik dieses mächtigen Renaissancebaus – ein geeignetes Medium für die dargebotene Musik der bedeutenden und stilbildenden französischen Organisten-Komponisten Tournemire, Cochereau, Vierne, Dupré, Guillou und Latry.

Die (komponierten) Werke dieser Einspielung verdanken ihren Ursprung jeweils selbst Improvisationen, welche die Grundlagen für eine später erfolgte schriftlich fixierte Ausarbeitung bildeten. Die Kunst der Improvisation wurde und wird in Frankreich auf der Orgel in besonderem Maße und vielfach auf höchstem Niveau gepflegt, wobei sich bis heute die (ursprüngliche) Anbindung an liturgische Sujets und Anlässe erhalten hat.

Die Tatsache, dass immer wieder respektvolle Schüler-Lehrerbeziehungen in der akribischen Übertragung von Tonaufzeichnungen in Noten dokumentiert sind, hat der Orgelwelt postum manch beeindru­ckendes „Werk“ geschenkt. Als Belege hierfür mögen die von Maurice Duruflé abgehörten Choral-Improvisation sur „Victimae Pascali“ seines Lehrers Charles Tournemire, die Meditation op. 31 aus einem dreiteiligen Improvisationszyklus des blinden Notre-Dame-Organis­ten Louis Vierne, aber auch die – von Frédéric Blanc übertragene – Berceuse à la mémoire de Louis Vierne von dessen späterem Amtsnachfolger Pierre Co­chereau gelten. Beeindruckend farbig erklingt die Komposition Saya (L’oiseau bleu) über ein koreanisches Volkslied von Jean Guillou (improvisiert 1993 anlässlich eines Konzerts in Seoul). Das 1999 ebenfalls aus einer Improvisation entstandene Salve Regina von Shin-Young Lees Ehemann Olivier Latry richtet sich grundsätzlich an typischen Versetten-Improvisationen über grego­rianische Themen aus und entwi­ckelt sich beeindruckend in Klang und Ausdrucksdichte; Chordirektor Frank Höndgen steuert hierzu klangschön gesungen die Verse des „Salve Regina“ bei.

Als historische Klammer darf man die beiden eingespielten Werke von Johann Sebastian Bach verstehen, welche der Überlieferung nach ebenfalls ursprünglich improvisiert waren: das sechsstimmige Ricercar aus dem Musikalischen Opfer und die Choralbearbeitung An Wasserflüssen Babylon (wohl eine Hommage an Johann Adam Reincken, den Bach in Hamburg mit seiner Improvisationsgabe „verblüfft“ hatte).

Shin-Young Lee interpretiert die Musik dieser Aufnahme souverän, jederzeit klug disponiert, stilistisch

tadellos sowie technisch-musikalisch mitreißend. Der Klang der Orgel im Raum wird durch die luzide Aufnahmetechnik plastisch abgebildet.
 
Christian Brembeck